So lebte man anno 1800
von Christel Seidensticker

Als der Buchdrucker Johann Heinrich Geiger seinen ersten Lahrer Hinkenden Boten unters Volk brachte, war sein Städtchen ein winzig kleiner Teppichflicken in einem Gebiet, das wir heute Baden nennen. Doch nicht einem badischen Fürsten hatte man zu huldigen, sondern schon fast 300 Jahr lang den Fürsten von Nassau-Usingen.
Wie aber lebte man hier - oder anderswo, irgendwo in einer kleinen Stadt? Spielte es eine große Rolle, wo man lebte, in Lahr, in Weimar, in Krähwinkel?
Wenn man es genau nimmt, so unterschied sich das Alltagsleben der Kleinstädter kaum, wo immer sie in Deutschland auch lebten und wie immer sie hießen. Krähwinkel war überall, jenes Städtchen, das durch das beliebte - und auch in Lahr aufgeführte - Theaterstück des Vielschreibers August von Kotzebue "Die deutschen Kleinstädter" den Prototyp der deutschen Kleinstadt abgab. Man lese das Stück, und man wird vieles darin finden, was auch in anderen Städtchen die Menschen bewegte. Vielleicht gab es in bestimmten Bereichen Unterschiede, je nach dem, ob man in einer Residenz, einer freien Reichsstadt oder in einer von Handel und Handwerk geprägten Stadt wohnte. Aber die äußeren Lebensbedingungen, der Stand der Technik, die Freiheiten oder Unfreiheiten, die glichen sich doch weitgehend.
Glücklicherweise hat der Herausgeber des Lahrer Hinkenden Boten nicht nur diesen Landkalender, sondern auch noch sein Wochenblatt herausgebracht, das - aller Zensur zum Trotz - einen guten Einblick in das kleinstädtische Leben gewährt, wenn man das schmale Blättlein nur recht zu lesen weiß.
Von Tagesereignissen ist zwar in der Zeitung nicht die Rede, das verbot sich für solche Wochenblätter. Dennoch kann man zwischen den Zeilen vom Wandel und Handel der Lahrer lesen. Amtliche Bekanntmachungen, die behördlich festgelegten Preise für Lebensmittel, die Namen der frisch "Gebohrenen, Kopulierten und Verstorbenen", die Versteigerungsmitteilungen und private Verkaufsanzeigen lassen lebendige Bilder entstehen.

Vor der eigenen Tür kehren
Wollte man damals einen Streifzug durch die kleine Stadt machen, dann war gutes Schuhwerk vonnöten. Der gänzliche Mangel an Kanalisation, die ungepflasterten Gassen und Wege: Die Straßen waren schlichtweg schmutzig. Die Stadtverwaltung mußte immer wieder die Bürgerspflicht, "vor der eigenen Tür zu kehren", anmahnen und gelegentlich öffentlich daran erinnern, daß "alles Ausschütten und Werfen aus den Fenstern, wo gangbare Wege oder Straßen sind", bei Strafe verboten ist. Verboten war es auch, die Hunde frei herumlaufen zu lassen. Die Strafe für Zuwiderhandlungen: 2 Gulden, und jedermann, der einen Hund des Nachts auf der Straße antraf, war berechtigt, "solchen totzuschlagen".
Auch ohne streunende Hunde waren die Straßen bei Nacht recht ungemütlich, nämlich stockdunkel. Doch schon läßt ein in die Zeitung eingerücktes Epigramm die neue, die erleuchtete Zeit erahnen:

Kommt her und singt mit dankerfüllten Zungen,
Die Nacht in unserm Städtchen wird bezwungen!
Die Lampe brennt so schön in der Laterne,
Und gleicht mit ihrem Licht dem Abendsterne! (1806)

Noch ist der Stadtkern von Mauern umgeben und von vier Tortürmen beschützt. Doch die einst zum Schutz gedachten Türme wanken bereits: "Der Dinglinger Torturm wäre beinahe zusammengestürzt. Der Herr Pannifex grub einen Keller daneben und untergrub seine Fundamente, so daß er kaum noch erhalten werden konnte und überall Risse bekam."
Zu fast jedem der etwa vierhundert Lahrer Häuser innerhalb der Stadtmauern gehörten Stallungen und Gartenplätze fürs Suppengemüse, und wo heute die Menschen flanieren oder vor den Cafés sitzen, grunzten Schweine - amtlich gezählte und "alles Schlachten ist anzumelden", damit am Ende auch keines fehle, vor allem auch nicht ein einziger Kreuzer beim fälligen Zehnten.
Vor den Toren der Stadt besaß man Äcker und Wiesen, und man hatte in diesem so reich gesegneten Land auch seinen eigenen Weinberg. Im Keller ruhten die Fässer. Obst gab es in Fülle, genug auch für die eigene Brennerei. Doch kein Paradies ohne Schlange: Gesegnet war die Gegend auch mit gefräßigen Raupen. Alljährlich wurden die Besitzer von Grundstücken aufgefordert, die Raupennester zu sammeln und zu vernichten.

Vom Fleiß der Bürger
Die Lahrer waren ein fleißiges Völkchen, trieben Handel mit Wein, Tabakwaren, Webartikeln und Leder, und schon vor 1800 entstanden einige Fabriken. Die Familie Lotzbeck produzierte Schnupftabak, die Völckers reüssierten mit einer Cichorienfabrik, und der meist recht übelriechende Gewerbekanal diente zahlreichen Gerbern und Färbern für ihr Handwerk. Hanf wurde gehechelt und gesponnen, Stoffe gewebt, es gab eine Schlauchfabrikation, die Schön- und Blaufärber gaben allem die rechte Farbe, und auf den Wiesen am kleinen Flüßchen Schutter wurde im Sommer das Leinen gebleicht.
Das alles brachte eine gewisse Weltoffenheit in die enge Stadt. Die Handelsleute schickten ihre Söhne, die auf dem Pädagogium, wie das Gymnasium nach 1804 hieß, neben Latein auch moderne Fremdsprachen gelernt hatten, in die Lehre nach Lyon. Sie selbst reisten in die weite Welt, brachten Reichtümer und die Kunde von den Neuerungen der Zeit mit. Mit unermeßlichen Reichtümern ist 1808 eine Familie aus Amerika zurückgekehrt:
"Vor einigen Wochen kam der junge Herr Deimling mit Frau und Kind und 1 1/2 Millionen Gulden aus Amerika über Bayonne hier an, und brachte 4 redende Papageien usw. mit. Er ist ein lustiger, artiger Mann, sie, bescheiden, sanft, gemein, und beinahe gekleidet und vollkommen so weiß als unsere vornehmen Frauenzimmer."
Frischen Wind brachten auch fremde Geschäftsreisende mit. 1803 übernachteten über 600 Reisende in den Gasthöfen von Lahr. Sie kamen aus Italien, Nürnberg, Bremen, Hannover, Braunschweig, Tirol, Paris und auch aus Übersee.
Die rege Tätigkeit und der industrielle Aufwind brachte aber auch das, was man heute Standortprobleme nennt. Die Arbeitskräfte wurden knapp, die Lohnkosten lagen höher als anderswo, und so sahen sich die Bandfabrikanten Kreidel und Rauch nach einem andern Standort um und verlagerten die Produktion ins nahe Elsaß und nach Basel - der niedrigeren Löhne wegen! Den Handel mit ihren Produkten betrieben sie weiterhin von Lahr aus.
Arbeiter und Arbeiterinnen kamen, wenn nicht aus der Stadt selbst, aus den Dörfern der näheren Umgebung. Der Weg war weit, die "Pendler" gingen ihn zu Fuß, und nach dem langen Arbeitstag hatten sie nicht immer Lust, gleich wieder nach Hause zu gehen. So trieben sie sich in den Bier- und Weinhäusern herum, lärmten und führten einen "unsittlichen Wandel", auch die arbeitenden Frauen. Besonders berüchtigt war der "Blaue Montag", bei dem die Arbeiter Hab und Gut verschleuderten, wie vor allem die Geistlichkeit immer wieder schärfstens rügte.
Obwohl durch die aufstrebende Industrie die Zahl der Arbeiter und Tagelöhner zunahm, gab es immer noch über 200 Berufe. Die Frauen arbeiteten in der Werkstatt bei ihren Männern mit oder füllten mit dem Erlös aus Putzmacher-, Näh-, Wasch- und Bügelarbeiten die Haushaltskasse auf. Wenn der Ehemann starb, zeigten sie im Wochenblatt an, daß sie das Gewerbe ihres Mannes weiterzuführen geneigt waren, und baten um Vertrauen. Im Idealfall heirateten sie kurze Zeit später einen einschlägigen Handwerker.

Die Bevölkerung
"Heute Nacht, um halb 2 Uhr gebahr mir mein liebes gutes Weib einen dicken gesunden Knaben. (Christian) Dieß zur Nachricht für alle, welche an meiner Freude Theil nehmen.
Lahr, den 20. Februar 1805 C. Trampler"

Ankündigungen von Geburten waren im Lahrer Wochenblatt der Zeit selten. Dem wohlhabenden Handelsmann Trampler war das freudige Ereignis aber einiges wert, und prompt kam in der übernächsten Nummer der öffentliche Glückwunsch: "Auf die frohe Ankündigung des Hrn. Trampler im hies. Wochenbl. Nr. 8 wegen der Geburt eines Knaben stattet öffentlich seinen Glückwunsch ab, das Burger-Collegium im Hechten dahier."
Nicht alle Familien konnten sich so ungehemmt über den Familienzuwachs freuen. Während bei Trampler nun endlich der ersehnte Stammhalter eingetroffen war, stellte sich in anderen Familien einer nach dem andern ein, und Mädchen noch dazu!
Dennoch nahm die Bevölkerung nicht wesentlich zu, denn die Kindersterblichkeit war erschreckend hoch. Darin jedoch waren sich alle Stände gleich, es traf sie gleichermaßen, den Handelsmann wie den Tagelöhner, den Baron wie den Strumpfstrickermeister. 1799 starben in Lahr 179 Kinder und nur 51 Erwachsene. Eine der häufigsten Todesursache waren die Pocken, denen die Kinder schutzlos zum Opfer fielen, obwohl es zu diesem Zeitpunkt schon eine Impfung mit Kuhpocken gab. Sie hatte sich noch nicht so recht durchgesetzt, obwohl die Journale voll waren mit Erfolgsmeldungen. Auch im Wochenblatt wurde mit Aufrufen und Erzählungen von wundersamer Rettung vor der Krankheit eifrig für die lückenlose Impfung geworben. Einige Ärzte boten sogar kostenlose Impfungen an.

Unmäßige Üppigkeit
Auch wenn die Arbeitszeit länger war als heute und viele Lahrer eigenes Land bearbeiteten, irgendwann einmal am Abend war Schluß. Noch nannte man das nicht Feierabend - dieses Wort bezeichnete vor allem den Zeitpunkt, an dem die Wirte die letzten Gäste wegschicken mußten - bei Strafe, wenn sie es nicht taten.
Was unternahm der Lahrer, wenn die Arbeit zu Ende war, wenn er nicht über Zahlenreihen saß, in der Tabakfabrik als Karottenzieher arbeitete, Leder gerbte oder Hanf hechelte? Was machte er am Sonntag, dem kirchlich gebotenen arbeitsfreien Tag?
Er dürfte wesentlich früher zu Bett gegangen sein, vor allem im Winter, denn die Räume waren schlecht beheizt und nur spärlich erleuchtet. Die große Zahl der Bier- und Weinhäuser - neben den Straußenwirtschaften gab es in Lahr auf etwa 5000 Einwohner über 30 Wirtshäuser - läßt den Schluß zu, daß die Männer - beileibe nicht die Frauen oder nur die "ganz schlechten" - häufig bis zur Feierabendglocke ins Wirtshaus gingen. Sie tranken das in Lahr gebraute und im Felsenkeller kühl gelagerte Bier frisch vom Faß und ließen sich auch den heimischen Wein munden, doch nicht nur diesen, die Wirte, die oft auch Weinhändler waren, verfügten immer auch über ein gutes Sortiment an Kaiserstühler oder Affentaler Weinen, und auch solchen aus Burgund und Bordeaux. Der Zuckerbäcker Caspar, der sich Cafetier nannte und im Billardzimmer ein Kränzchen - für Männer - hielt, schenkte auch Liköre und Champagner aus.
Anlässe zum Feiern mit Tanz und anderen Vergnügungen fand man immer: die Hochzeit, die Taufe, der Stefanstag, der Geburtstag des Landesfürsten, der Jahrestag der Gründung des Armeninstituts, die Gründung des örtlichen Gymnasiums. Da wurden auf Festbanketten die dreifachen Hochs ausgerufen, da marschierte man im Fackelzug auf den nahen Schutterlindenberg, voran die weltliche und geistliche Obrigkeit. Und danach ging es in den Wirtshäusern und in den Tanzsälen hoch her. In einer landesherrlichen Verordnung von 1803 liest sich das so:
"Man hat dahier die vielen Unordnungen und Mißbräuche zu vernehmen gehabt, welche hin und wieder, besonders in einigen Ämtern der neueren Lande, bei Kindstaufen, Leichen und Hochzeiten vorgehen, wobei unmäßige Üppigkeit, Schwelgerei und Verschwendung oft mehrere Tage und Nächte lang ununterbrochen fortdauern; da hierdurch häusliche Ordnung und Ruhe gestört, die Jugend und das Gesinde von nützlicher Arbeit entfernt, zum Müßiggang und nächtlichen Schwärmen veranlaßt, an Geist und Körper verdorben, dem stillen Bürger Ärgernis gegeben, Irreligiosität, Sittenlosigkeit und Hang zur Verschwendung allgemein verbreitet, manche Familien gleich bei Anfang in schwere Schulden oft unwillkürlich gestürzt und der Grund zu ihrem Verderben gelegt wird, so findet man sich in all dieser Hinsicht gemäßiget, folgendes ... zu verordnen."
Was nun in der amtlichen Mitteilung folgte, muß für die Untertanen wie ein Horrorkatalog geklungen haben. So durfte bei Taufen nicht außerhalb des Taufhauses getanzt und gezecht werden, und das Fest mußte nachts um 10 Uhr beendigt sein. Der Leichenschmaus wurde - außer für auswärtige Trauergäste - schlichtweg verboten. Die Hochzeitsfeierlichkeiten wurden auf einen Tag bis spätestens 11 Uhr, die Zahl der Hochzeitsgäste auf höchstens 24 beschränkt. Alles, was heute unter die Rubrik Volksbrauchtum fallen würde - das Hochzeitsladen durch junge Paare, die Morgensuppe, die Nach- und Nebenmahlzeiten - wurde verboten, nicht gestattet, bei Strafe, versteht sich: Jeder Verstoß gegen einen Punkt der Anordnungen wurde mit einer Geldbuße von 15 Gulden belegt, zu zahlen innerhalb von 6 Wochen. Wer zahlungsunfähig war, wurde "ebenso viele Tage eingetürmt", wie die Geldstrafe in Gulden betrug.
Doch auch andere Vergnügungen gab es. Das ganze Jahr über, ausgenommen die Fastenzeit, fanden Volksbelustigungen unterschiedlichster Art statt. Umherziehende Artisten, Scharlatane und auch ganz honette Leute bieten ihre Künste an. "Voltigeur Wolf hat die Ehre ein verehrungswürdiges Publikum zu benachrichtigen, daß er morgenden Sonntag des Nachmittags um 4 Uhr dahier im Bauhof seine hier noch nie gesehenen Künste im Springen, sowie auf dem Seil und Draht und sehr vielen andern Stücken zeigen wird."
Mr. Rapp gibt im Gasthaus zum Hechten eine Abend-Unterhaltung in "optischen Künsten", ein Herr Breitrück stellt "Mechanische Kunstwerke nebst neu erfundenen beweglich-körperlichen Geistererscheinungen und ein optisches Ballet im großen Saal der Linde vor". Ein Bauchredner verspricht willkommene Unterhaltung, am Hechten wartete eine Kunstreiter-Gesellschaft auf "mit ganz neuen Trampolin- und Padedur-Sprüngen. Zum Beschluß folgt ein großes Ballett, betitelt Figaros Rosenfest oder die mit Rosen gekrönte Hochzeit". Selbst der ehrwürdige Kardinal Rohan, der vor den Jakobinern aus Straßburg ins nahe Ettenheim geflüchtet war, kam nach Lahr, um sich an tanzenden Pferden zu belustigen.
Und wenn sich die Schönen des Städtchens fürs Familienalbum oder für den Liebsten auch im Bild verewigen wollten, dann konnten sie sich an die zahlreich umherziehenden Silhouetteure wenden.
"Da ich bis künftige Woche von hier abreise, so zeige ich solches hiermit einem geehrten Publikum an, im Falle noch jemand von meiner Arbeit etwas gefällig wäre, zumal da solche Beifall erhalten. Mein Logis ist noch bei den Schneidermeister Michael Walter.
Winter, Silhouetteur"
Etwas teurer kam da Porträt vom Miniatur-Maler:
"Einem verehrungswürdigen Publikum hat der Porträt- und Miniatur-Maler, Joseph Ange Augustin die Ehre seine ergebensten Dienste mit der Versicherung anzubieten, daß er nach den Regeln der Kunst und vollkommen gleich male. Wer ihn seines Vertrauens zu würdigen beliebt, wird von ihm vollkommene Zufriedenheit erhalten. Er wird in der Karwoche hier ankommen und logirt im Adler."
Das ganz besondere Vergnügen aber ist das Theater. Man ging dorthin, wie in unserem Jahrhundert ins Kino. Theatergesellschaften besuchen die Städte, bleiben oft wochen- oder gar monatelang. Beliebt waren heroische Trauerspiele, Lustspiele oder komische Singspiele. Nur gelegentlich gibt es das, was wir heute die Klassiker nennen: Die Räuber von Schiller, Emilia Galotti, "das Meisterstück der deutschen Bühne von Hrn Lessing", Kabale und Liebe, "des unvergeßlichen Schillers Meisterstück". Sonst aber wird gespielt: "Der edle Verbrecher", ein großes Schauspiel in 5 Aufzügen von Leonini, "Der Strich durch die Rechnung", "Dank und Undank von Hagemann", "Der Phlegmaticus" von A. Herbst, "Der Gefangene und das heiratsmäßige Mädchen", "Armut und Edelsinn" und dergleichen. Äußerst beliebt waren die Stücke von August von Kotzebue.

Wenn einer eine Reise macht
Da staken wir, da staken wir
Und staken wir in Sachsen,
Im Dreck bis an die Achsen
So fest wie angewachsen.

Dieser von Lichtenberg mitgeteilte Spottvers, der zu seiner Zeit von den Fuhrleuten auf der Strecke zwischen Frankfurt und Leipzig gesungen wurde, schildert anschaulich, was man vor zweihundert Jahren zu erwarten hatte, wenn man sich auf Reisen begab. Und auch das schreibt er: "& endlich so hat man auf den deutschen Postwagen ganz andere Sachen zu tun, als zu plaudern, man muß sich festhalten, wenn die Löcher kommen, oder in den schlimmeren Fällen sich gehörig zum Sprung spannen; muß auf die Äste achtgeben, und sich zur gehörigen Zeit ducken, damit der Hut oder der Kopf sitzen bleibt & " Mag Lichtenberg mit solchen und anderen Schilderungen auch übertreiben, sie geben doch ein Stück Reisewirklichkeit unserer Vorväter wider.
Reisen damals war wahrhaftig kein Vergnügen, auch nicht in der "grün lackierten, auf 4 Federn hängenden Reisechaise". Die Straßen waren schlecht und holprig. Die Fuhrwerke und Kutschen blieben - siehe obige Spottverse - im Morast stecken, die Achsen brachen, auf unübersichtlichen Wegen lauerten Banditen. Schaudernd las man im Wochenblatt oder im Hinkenden Boten die Berichte über den Schinderhannes und andere Wegelagerer, die in den Wäldern hausten.
Wer keine eigene Kutsche und Pferde besaß, ging zu Fuß oder stieg beim Fuhrmann auf. Man traf sie zufällig oder nahm deren feste Termine für Personen- und Gütertransporte wahr. Nach Straßburg konnte man von Lahr aus eine regelmäßige Linie benutzen: Sonntags fuhr man sechssitzig, donnerstags im gedeckten Wagen. Die Post wurde durch die täglich außer Samstag in Lahr eintreffende und ausgehende reitende Post befördert.
Ganz billig war das Reisen auf keinen Fall. Ein Lahrer Handelsmann notierte in seinem Hinkenden Boten nach einer Fahrt nach Straßburg: "21 Kreuzer für den Paßport, für das Chausseegeld 49 Kreuzer, das Brückengeld in Kehl - hin und her - machte 44 Kreuzer, das Fahrgeld für den Pflugwirt Bucherer 3 Gulden."
Wer außer sich selbst auch noch Waren transportierte, mußte beim Überschreiten einer Grenze Zollgebühren bezahlen. Und an die Grenzen eines Landes stieß man oft schon nach wenigen Kilometern, vor allem auch in dem Gebiet, das heute Baden heißt. Man schaue sich da nur eine Landkarte des ausgehenden 18. Jahrhunderts an. Und Zoll lag auf allem, was man transportierte. Auch auf dem Hinkenden Boten, wenn er denn überhaupt in ein andres "Land" eingeführt werden durfte. Schon wenige Kilometer vor der Stadt wechselte die Herrschaft.
Auf einen Verkehrsrowdy der damaligen Zeit wurden diese Verse geschmiedet.

An einen Reiter durch die Straßen
O Held, beflügelt im rauschenden Trott,
Sei Mensch! und - ehre das fünfte Gebot.
(1805) Von Mord und Totschlag

Wer glaubt, frühere Zeiten seien besser gewesen, kann sich leicht durch die
Lektüre alter Wochenblätter und auch des Lahrer Hinkenden Boten eines besseren belehren lassen. Im Jahrgang 1804 wird unter der Überschrift "Selbstmord, Mordbrennereien und andere Mordtathen" über acht Verbrechen berichtet. Die Witwe Marie Anne Brumresau zum Beispiel führte in der Nähe von Kleve einen schlechten Lebenswandel: "in einem verbotenen Umgang mit einem gewissen Jacotin", einem "Wüstling". Das hatte Folgen. Sie und ihre zwölfjährige Tochter wurden von einer "häßlichen Krankheit" angesteckt. Da beschloß sie, die Tochter zu ermorden. "Vergebens bat das blutende Opfer unter dem Mordmesser, ihr wenigstens zu gestatten, noch einmal für die Mutter zu beten!. Schweig, sagte die Furie, ich will dir den Weg ins Paradies zeigen. Und mit diesen Worten vollendete sie ihre abscheuliche Tat, darauf überlieferte sie sich selbst der Gerechtigkeit."
Um sittlich gute Aufführung wird gebeten

Vergeblich sucht man vor zweihundert Jahren nach dem sporttreibenden Bürger. Kein Fußballverein, kein Turnverein, die entstanden erst um die Jahrhundertmitte, als sich allmählich auch das Wort Sport für "Leibesübung als Spiel und zum Vergnügen" aus dem Englischen einbürgerte. Die örtliche Schützengesellschaft, die es im übrigen heute noch gibt, bildete eine Ausnahme. Sie war schon im Mittelalter entstanden, diente aber ursprünglich der Verteidigung der Stadt. Jetzt, um 1800 herum, übten sich die Vereinsmitglieder zwar immer noch im Schießen, aber sie hatten nun vor allem im Auge, beim Preisschießen einen Pokal zu gewinnen.
Vom Spazierengehen könnte man noch berichten, von langen Fußmärschen auf die umliegenden Berge. Man ritt aus, und bei günstigem Wetter versuchte man sich im kleinen Flüßchen im Schwimmen, was allerdings so selbstverständlich wie heute nicht war. Der Hinkende Bote erklärte 1819 das Monatsbild, das er seit Jahren beim Monat Juni abdruckte folgendermaßen:
"Frisch gewagt ist halb gewonnen. Das Schwimmen kann man freilich nicht gleich das erstemal recht. Aber einmal muß man doch anfangen zu probieren, und wer mit Mut und Vorsicht oft probiert und endlich den Vorteil durch die Übung erlöckert der wird ein Schwimmer. Doch ist deshalb die nötige Vorsicht nicht außer Acht zu setzen. Daher ist auf unserm Bild ein Schifflein zu sehen, welches ohne Zweifel da ist, um den Badenden und Schwimmen Lernenden, falls er in Gefahr kommen sollte, zu Hilfe gewärtig zu sein."
Irgendwie hat aber öffentliches Baden auch etwas Anrüchiges. Schließlich gab es noch keine züchtigen Badehosen wie hundert Jahre später, sondern man stürzte sich nackt in die Fluten, wie auf dem Monatsbild leicht zu erkennen ist. Deshalb mahnte der Lahrer Badwirt: "Diejenigen, welche das Bad in der Schutter selbst dem in dem Zimmer vorziehen, können solches bei möglich guter Bequemlichkeit um einen sehr billigen Preis genießen, wobei ich mir jedoch sittlich gute Aufführung erbitte."

Der Gelegenheitsdichter
Jedem Städtchen erwuchs zu jenen Zeiten auch ein Dichter, der Gelegenheitsdichter. Zu vielen Anlässen steuerte er Poetisches bei. Es gehörte zum guten Ton, den Hochzeitstag poetisch zu umrahmen.
Besonders aktiv war in Lahr Friedrich Siebenpfeiffer, ein Verwandter des nachmals durch das Hambacher Fest als aufrechter Demokrat berühmt gewordenen Philipp Jacob Siebenpfeiffer. Siebenpfeiffers Geschäft blühte. Wer es sich leisten konnte, ließ das Werkchen auch drucken.

Schön ist des Mannes Erdenleben,
Ist ihm ein süßes Weib gegeben,
Das freundlich ihm entgegenlacht;
Ist er an den Beruf gebunden,
So würzt sie ihm des Tages Stunden,
Die Nacht, die Nacht
Wird selig zugebracht.

Kein Gedicht gleicht dem andern, und wenn sich auf den Namen ein Reim machen läßt, dann schafft das der Siebenpfeifer auch:
Die Väter sehen mit Entzücken
Auf die vermählten Kinder hin!
Und beide treue Mütter blicken
Auf sie mit zärtlich frohem Sinn!
Und festlich an der Tafel-Runde
Frohlockt man diesem schönen Bunde:
Das Paar ist schön, ist gut und brav
Hoch leb' Lisette und Gustav!
Bei Gelegenheit wird dann auch des kommenden Nachwuchses gedacht. Am Vermählungstage des Victor Schmidt, des kk östreich. Fürstl. Leyischen Forstmeisters, mit der Jungfer Maria Kempflin wird so gereimt:

Bald krön` und heil'ge Eure Triebe,
Und mach noch schöner Euer Loos,
Ein Victorlein, die Frucht der Liebe,
Und zapple Marie auf dem Schoos!
Die Mutterlust, die Vaterfreude
Verbindet enger noch Euch beide.

 




Im Lahrer Wochenblatt vom 17. Oktober 1800 bot der Verleger Johann Heinrich Geiger zum ersten Mal den Lahrer Hinkenden Bott auf das Jahr 1801 zu billigsten Preisen und in Menge an.


Poetisch-verklärte Darstellung der Erntearbeit aus einem frühen Lahrer Hinkenden Boten.


Die Marktstraße in Lahr Mitte des vorigen Jahrhunderts. Es gab schon Gehwege und die Straßen waren befestigt (Druck von einem alten Holzschnitt aus dem Lahrer Hinkenden Boten).


Frauen beim Spinnen am warmen Kachelofen. Ein Mann zündet sich am Lichtspan die Pfeife an. Die Vorlage für diesen Kupferstich zeichnete und stach der Straßburger Künstler Bemjamin Zix.


Es wurde damals hart gearbeitet, aber auch fröhlich gefeiert. Anlässe zum Feiern mit Tanz und anderen Vergnügungen fand man immer: die Hochzeit, die Taufe, der Stefanstag, der Geburtstag des Landesfürsten (aus dem Neuen Badischen Volkskalender Konstanz 1823).


Die fröhlichen Zecher auf dieser Abbildung aus der 3. Auflage von Hebels "Allemannischen Gedichten" (1806) trinken auf das Wohl des Kurfürsten von Baden. Die Vorlage für den Kupferstich zeichnete und stach der Straßburger Künstler Bemjamin Zix.


Zu den Gauklern und Künstlern, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts unterwegs waren, gehörten auch Silhouetteure, die im Scherenschnitt Porträts fertigten.


Schillers Drama "Die Räuber" gehörte zu den beliebtesten Theaterstücken. Die "Kranzsche Gesellschaft" führte es 1807 in Lahr auf (Abbildung aus der Cottaschen Schiller-Ausgabe von 1837).


Wider Zollschranken und Kleinstaaterei damals und heute (aus dem Lahrer Hinkenden Boten 1864).


Gefährliches Reisen mit der Kutsche. Es drohten Überfälle&


& und Unfälle.


Schon für kurze Reisen waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufwendige Paßformalitäten notwendig.


Badefreuden zu Beginn des 19. Jahrhunderts (Monatsbild für Juni aus den frühen Kalendern des Lahrer Hinkenden Boten).