Ein Interview mit Wolfgang Thomassen
Das Reichsweisenhaus, von den Nazis geschlossen

Der heute wohl bekannteste ehemalige Zögling des Ersten Deutschen Reichswaisenhauses ist Professor Dr.-Ing. Wolfgang Thomassen. Anne-Marie Glaser sprach mit ihm über das Waisenhaus, die Hauseltern Fies und die Übernahme durch die Nazis sowie die Zeit danach.
o Prof. Thomassen, Sie lebten in den 30er Jahren im 1. Deutschen Reichswaisenhaus?
Prof. Wolfgang Thomassen: Ich wurde am 14. Februar 1932 in Berghausen bei Karlsruhe geboren. Mein leiblicher Vater, Dr.-Ing. Walter Hsia war nach Absolvierung seines Ingenieurstudiums an der TH-Karlsruhe (Staatsstipendiat) bereits wieder in sein Heimatland China zurückgereist. Meine leibliche Mutter stimmte aus finanziellen Gründen deshalb dem Wunsch des Ehepaares Fies zu, mich in Pflege zu nehmen. Da das Ehepaar kinderlos war, hatten sie sich beim Karlsruher Jugendamt um ein zweites Pflegekind beworben. Else und August Fies leiteten damals das 1. Deutsche Reichswaisenhaus. So kam ich im Januar 1938 nach Lahr. Ich wurde sofort in den engeren Familienbereich der Hauseltern Fies aufgenommen, wohnte und lebte in ihrer Privatwohnung.
o Hatten Sie deshalb eine Sonderstellung im Haus?
Prof. Wolfgang Thomassen: Nein, im 1. Deutschen Reichswaisenhaus wurden wir alle gleich behandelt und nach gleichen Maßstäben erzogen. Auch die Anrede war für mich und meinen Pflegebruder Theo Seng wie für die anderen Waisenbuben: Vater und Mutter. Else Fies war die Seele des Hauses und für uns alle gleichermaßen eine echte Mutter, wie es keine bessere geben konnte. Später noch verbrachten viele ehemalige Waisenbuben, die alle Soldaten wurden, ihren Heimaturlaub in der Privatwohnung unserer Eltern.
o Erinnern Sie sich noch an die Übernahme durch die Nazis?
Prof. Wolfgang Thomassen: An die damaligen Vorgänge der Umwandlung des 1. Deutschen Reichswaisenhauses in eine "Jugendheimstätte der NSDAP. kann ich mich wegen meines jungen Alters nur an wenig Details erinnern. Auch wurde ich wegen meiner nichtarischen Abstammung und meines Aussehens von den immer häufiger im Haus auftretenden NS-Kontrollen ferngehalten. An zwei wesentliche Ereignisse erinnere ich mich jedoch noch sehr gut: Das Haus wurde von den Eheleuten Fies im christlichen Geist geführt. Dies wurde mit der Weisungsbefugnis sofort verboten, ebenso die traditionelle Weihnachtsfeier. Das zweite war die große Trauer und die vielen Tränen meiner Pflegemutter sowie die langen nächtlichen Gespräche über die sich abzeichnende Schließung des 1. Deutschen Reichswaisenhauses.
o Was taten ihre Pflegeeltern nach dem Auszug aus dem Haus auf dem Altvater?
Prof. Wolfgang Thomassen: Meine Pflegeeltern wurde in rigoroser Weise ultimativ des Hauses verwiesen. Hätten ihnen nicht treue Freunde geholfen, wären sie buchstäblich als Wohnsitzlose auf der Straße gestanden. Sie konnten eine Wohnung im Privathaus der Firma Dahlinger beziehen und erhielten eine bescheidene Pension. Meinen Pflegebruder Theo Seng und mich nahmen sie in ihren Hausstand auf. Am Ende des unseligen Krieges übernahm mein Pflegevater dann die geistliche Betreuung der Kriegswitwen und -waisen. Die NS-Agitatoren hatten sich aller Verantwortung entzogen.
o Sie leben inzwischen nicht mehr in Lahr sondern am Bodensee. Was tun Sie beruflich?
Prof. Wolfgang Thomassen: Ich bin Professor an der Fachhochschule Konstanz, gehöre dem Fachbereich "Nachrichtentechnik. an und lehrte bis zu diesem Semester "Nachrichten-Meßtechnik. . Ende der 60er Jahre baute ich das Nachrichtentechniklabor auf, ebenso das Hochschulrechenzentrum, das ich bis Anfang der 80er Jahre leitete. Seit 1980 konnte ich eine für Universität und Fachhochschule Konstanz gemeinsame "Kommission für China-Projekte. gründen und bis 1997 leiten (http://cital.fh-konstanz.de). Die Gründung der Hochschuleinrichtung "Centrum für internationale Terminologie und angewandte Linguistik. vollzog ich 1995.
o Haben Sie denn nach der langen Zeit heute noch Kontakt zu ehemaligen Zöglingen des früheren Reichswaisenhauses?
Prof. Wolfgang Thomassen: Ja, wir pflegen mit der Familie des Sohnes eines ehemaligen Waisenbuben noch engen Kontakt. Leider ist der Vater im letzten Jahr verstorben.
Vielen Dank für das Gespräch.

 




Professor Dr.-Ing.Wolfgang Thomassen