Der Hinkende Bote krönte den Turm
Wie der Ministerpräsident die Stadt Lahr erlebte
von Philipp Brucker

Ein richtiger Lahrer oder "e räschter Lohrer", wie wir in "Lohrerditsch" sagen, begegnet in seinem Leben immer wieder dem "Hinkenden Boten". Bei mir begannen die Begegnungen beim Großvater. Am Rand der Altstadt hatte er seinen Garten, in dem es Blumen, Beeren, köstliche Pfirsiche und saftige Butterbirnen gab. In dem Gartenhaus, das nicht nur die Geräte barg, stand ein Tisch mit Bank und Stühlen, damit man nach der Arbeit auch vespern konnte. Auf dem Tisch lag der "Hinkende", denn der Großvater ergötzte sich nach der Gartenarbeit an den Bauernweisheiten, den Wetterregeln und den kleinen Geschichten, die der Kalendermann erzählte. So erfuhr ich auch etwas über Mondphasen, über den Lauf der Planeten, aber auch über Namenstage. Siehe da, Großvater und ich durften dank unserer Vornamen am 1. Mai, der noch nicht politisch besetzt war, unseren Namenstag begehen. Da Großvater katholisch war, wurde das immer ein kleines Fest. "Philippi und Jacobi Regen/folgt ein Jahr voll Erntesegen", so liest man heute noch im Kalender, der mir wie ein Bote aus Groß-vaters Zeiten lieb geworden ist.
Der Kalender war wohl der besondere Freund der Großväter. Wenn ich später bei meinen Dienstreisen im Norden Deutschlands erklärte, daß ich aus Lahr komme, hieß es oft: "Aus Lahr? Da hatte mein Großvater den Kalender mit dem hinkenden Boten her. Gibt es den noch?" Heimgekehrt, schickte ich den Kalender flugs als Antwort gen Norden.
Eines Tages machte mir dann ein mir wohlgesinnter Mensch ein überraschendes Geschenk. Er gab mir eine jener Schachteln, die früher der Apotheker für seine Pillen und Pülverle verwendete. In dieser Schachtel aber lag, fürsorglich auf Watte gebettet, ein winzig kleiner, aus Zinn gegossener "Lahrer Hinkender Bote". Ich nahm ihn vorsichtig heraus und freute mich über den handbemalten Stelzfuß mit seinem Zweispitz und der Lanze. Es war mir, als ob sich ein Traum erfülle. Ein Traum, der mich in den Garten meines Großvaters selig führte.
Dann aber kam der Tag, an dem ich den "Hinkenden Boten" auf die Spitze eines gar seltsamen Turmes stellen durfte. Es war im Juli 1962. Ich war gerade ein halbes Jahr lang als Oberbürgermeister im Lahrer Rathaus, dem kleinen Schlößchen der einstigen Schnupftabakkönige Lotzbeck, tätig, als aus der Landeshauptstadt Stuttgart eine uns alle aufregende Kunde kam. Der Ministerpräsident Kurt-Georg Kiesinger, der spätere Bundeskanzler, wolle, so schrieb der Protokollchef, mit dem gesamten badenwürttembergischen Kabinett den Landkreis Lahr besuchen und dabei im Lahrer Rathaus den Anfang machen.
Bei meinen Überlegungen, wie wir den Landespolitikern die Geschichte unserer Stadt und deren Probleme näherbringen könnten, fiel mir meine Burgheimer Großmutter ein. Sie hatte in Heimarbeit Lädle gefertigt. Heute sagt man "Schächtili" zu diesen kleinen Schachteln und nennt Lahr auch liebevoll die "Schächtili-Stadt". Diese Großmutter hatte uns Enkelkinder an Weihnachten stets mit Satz-Schachteln überrascht. Solche ineinandergesteckten Schachteln führten von Geheimnis zu Geheimnis, von Entdeckung zu Entdeckung. Das war es, was ich für die Landesregierung brauchte: Lahrer Geheimnisse, die Schachtel für Schachtel zu Entdeckungen führten.
Zum Glück hatten wir einen Inhaber einer Kartonagenfabrik als Mitglied in unserem Gemeinderat. Ihm trug ich meine Idee vor. Er meinte lächelnd, daß die Entwicklung längst über die Satz-Schachteln hinweggegangen sei. In seinem Betrieb arbeite jedoch noch ein Kartonager, der die handwerkliche Kunst, Satz-Schachteln zu machen, beherrsche.
Der gute Mann fertigte uns die hübschen Satz-Schachteln, eine kleiner als die andere. Jede Schachtel ließ ich mit einem Foto, das ein Motiv aus Lahrs Geschichte und Gegenwart zeigte, bekleben. Als die Mitglieder des Kabinetts in der Säulenhalle des Rathauses standen und ich klopfenden Herzens an dem mich weit überragenden Ministerpräsidenten hinaufblickte, kam der Augenblick der Überraschung. Ich sprach von der Geschichte unserer Stadt, ihren Problemen, aber auch von der traditionsreichen oder neu angesiedelten Industrie. Dann kam ich auf das zu sprechen, was die Lahrer seit Generationen neben dem "Hinkenden Boten" als ein Symbol ihres Fleißes betrachten: die Schachtel im besonderen und die Verpackungsindustrie im allgemeinen. Bei diesen Worten zog ich hinter meinem Rücken die Satz-Schachtel hervor und öffnete sie. Der Ministerpräsident lächelte und wollte mir das Geschenk abnehmen. Aber jetzt begann erst das Spiel. Ich sprach von der Stadt Lahr im allgemeinen und öffnete die Schachtel. Dann öffnete ich die nächste, deren Deckel eines unserer Gymnasien zeigte. Schachtel um Schachtel boten im bunten Wechsel unsere Stadt. Neun Schachteln konnte ich öffnen, ehe mit dem kleinsten Schächtili der "Lahrer Hinkende Bote" zum Vorschein kam. Ich schloß alle Schachteln und stellte sie auf dem Tisch so aufeinander, daß ein bewundernswerter Turm zustande kam. Seine Spitze krönte der "Hinkende Bote".
Der Ministerpräsident schmunzelte, legte seinen Kopf in der von ihm so gewohnten Weise leicht zur Seite und dankte. Ich war glücklich über die Schächtili-Überraschung, sagte aber nicht, daß in meiner Kindheit an dieser Stelle mein Bruder daherkam und übermütig das herrliche Kunstwerk zum Einsturz brachte.


 



In der kleinsten Schachtel lag ein aus Zinn gegossener Hinkender Bote mit Stelzfuß, Lanze und Zweispitz, liebevoll von Hand bemalt.


Die Probleme der "Schächtili-Stadt" Lahr erläuterte der damalige Oberbürgermeister Dr. Philipp Brucker dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten mit einem Satz Schachteln. In der kleinsten Schachtel kam der Hinkende Bote zum Vorschein.