Der Hinkende Bote in aller Welt
von Christel Seidensticker

Vielfältig sind die Spuren, die der Lahrer Hinkende Bote auf seinem Weg durch Deutschland und die übrige Welt hinterlassen hat. Ein Lahrer kann noch so weit entfernt von heimischen Gefilden sein, er ist es gewohnt zu hören: "Ach, aus Lahr kommen Sie. Da kommt doch der Hinkende Bote her, den habe ich immer bei meinen Großeltern gelesen."
Daß in Lahr selbst der Hinkende Bote allzeit und überall präsent war, versteht sich fast von selbst, gab er doch im Laufe seines Wandels durch die zwei Jahrhunderte vielen Menschen Arbeit und Brot. Und er trug den Namen des kleinen Städtchens in alle Welt. Kein Festzug ohne einen Wagen mit der markanten Gestalt, und bei vielen Gelegenheiten tauchte er in der ein oder anderen Gestalt auf, leibhaftig im Kostüm, in Bronze gegossen oder aus Holz geschnitzt. In die Grundsteine öffentlicher Gebäude mauerte man neben Münzen, Einwohnerbuch, heimischem Wein immer auch ein druckfrisches Exemplar des Hinkenden Boten ein. Heute läßt es sich kein Filmemacher oder Amateur entgehen, einen Film über Lahr mit einem der Wegweiser zu beginnen, die schon viele Kilometer vor Lahr auf die Heimat des Kalenders hinweisen. Neu dagegen ist eine Pralinenkreation, die in einem Lahrer Café angeboten wird, jedes einzelne Stück mit dem Relief des Hinkenden versehen. Auch ein Sekt trägt seinen Namen und sein Bildnis.

Samuel Friedrich Sauter
Der dichtende Dorfschulmeister (1766 - 1846) ist heute unter seinem richtigen Namen weithin unbekannt. In aller Munde jedoch ist der "Biedermeier", für den Sauter das Vorbild abgab. Ludwig Eichrodt erfand 1852 einen "Weiland Gottlieb Biedermaier", und unter diesem Namen erschienen in der Folge zahlreiche Gedichte, die Sauters volksliedhafte und oft rührselige Gedichte parodierten, teilweise aber auch wörtlich übernahmen.
Unter Sauters originalen Gedichten findet sich ein etwa 1830 entstandenes, das dem Lahrer Hinkenden Boten ein frühes literarisches Zeugnis setzt. Zehn Strophen lang besingt Sauter das friedliche genügsame Leben der biederen Bauersleute. Was sie am Sonntag so alles machen, wird in der siebten Strophe geschildert, und dazu gehört auch, daß sie im "Lahrer Kalender" lesen.

Das friedliche Örtle
oder der vergnügte
Bauernbursch.

In unserem Örtle
Gefällt mir's so wohl,
Da pflanzt man im Gärtle
Kukumer und Kohl,
Süßerbsen und Bohnen
Und Rettich und Lauch,
Und was man hat nötig
Zum Küchengebrauch.

In unserem Örtle
Da bin ich so gern.
Kein unschönes Wörtle
Hört einer von fern.
Da hat man beständig
Ein ruhig's Gemüt,
Man zahlt den Acciser,
den Wagner, den Schmied.

In unserem Örtle
Ist keiner ein Tor,
Man bringt kein Beschwerdle
Beim Schulzenamt vor.
Wir schaffen und lassen
Einander in Ruh`,
Der Schneider macht Kleider,
Der Schuster macht Schuh.

In unserem Örtle
Ist's herrlich bestellt,
Da baut mit dem Pferdle
Das Bäurle sein Feld;
Die Reicheren halten
Sich Stiere zum Zug;
Die Ärmeren spannen
Die Kühe an Pflug.

In unserem Örtle
Da wird nicht geschleckt,
Da ißt man kein Törtle
Und andres Konfekt;
Da weiß man vom Kaffee
Und Branntewein nichts,
Da freut man sich seines
Gesunden Gesichts.

In unserem Örtle
Da herrschet kein Staat,
Am Rock hat kein Börtle.
Als nur der Soldat;
Man trägt einen Kittel
Von wergenem Zwilch
Ißt abends nur Suppe,
Kartoffeln und Milch.

In unserem Örtle
Ist's Spielen verbannt.
Da nimmt man kein Kärtle
Am Sonntag zur Hand;
Man liest in der Bibel
Und was man noch hat,
Im Lahrer Kalender
Und Landwirtschaftsblatt

In unserem Örtle
Trägt niemand was aus,
Kein Tor und kein Pförtle
Braucht niemand am Haus;
Die Leutlen sind alle
ganz ehrlich und brav,
Hier stören nicht Diebe
Die Guten im Schlaf.

In unserem Örtle
Da ist eine Freud'.
Ein freundlich Gebärdle
Von's Friederles Maid
Ergötzt mir die Seel.
Wißt, daß sie mich nimmt,
Bis Dienstag nach Ostern
Ist d'Hochzeit bestimmt.

Von unserem Örtle
Da zieh ich nicht aus.
Ein eigenes Herdle,
Ein niedliches Haus
Ist mehr wert als Bürger
In Baltimore sein.
Aus Baden zu wandern,
Das fällt mir nicht ein.

Die Lahrer dürften schon sehr früh die beliebten Lieder von Sauter gekannt haben, denn der Verleger des Hinkenden Boten bot die frühere Ausgabe von 1811 zum Verkauf an, und zwar in Hebels erstem in Lahr gedruckten Rheinländischen Hausfreund (1813). Da findet sich unter dem Titel "Zwei Bücher" nach einer Anzeige für die "Aktenmäßige Geschichte der Räuberbanden an beiden Ufern des Mains, im Spessart und im Odenwald" folgende Empfehlung:
"Weil aber auf alles Schauerhafte gleich wohl wieder etwas Lustiges gehört, so hat Hr. Braun (Verleger in Heidelberg) ebenfalls herausgegeben: Volkslieder und andere Reime von dem Verfasser des Krämermichels, woran viele Leute großen Spaß finden. Preis 36 kr. Beide Bücher sind bei
Herrn Katz in Pforzheim und bei Herrn Geiger in Lahr zu haben und können bei allen Herren Buchbindern bestellt werden."

Der Lahrer Hinkende Bote
und die amerikanischen Brücken
Ein Ingenieur namens Hemberle wanderte im vorigen Jahrhundert aus Deutschland in die Vereinigten Staaten aus. In Cincinnati sah er im Schaufenster einer Buchhandlung einen Lahrer Hinkenden Boten. Er ging hinein und kaufte ihn. Gleichzeitig war ein anderer Herr hereingekommen, der nach Werken über Brükkenbau fragte. Da der Buchhändler nur wenig Bescheid wußte, gab Hemberle die gewünschte Auskunft. Der Herr hatte eine Brücke zu bauen und brauchte Hilfe, die er in Herrn Hemberle fand. Die Brücke fiel durch diese Gemeinschaftsarbeit vortrefflich aus, und Ingenieur Hemberle hat dann noch viele hundert Brücken in den USA gebaut. Er wurde als der genialste Brückenbauer bezeichnet. So hat denn der Hinkende Bote den Amerikanern zu Brücken und dem Ingenieur Hemberle zu großem Ansehen und Reichtum verholfen.

Der Hinkende Bote im Brauchtum
In Bergzabern machte man auf ganz besondere Weise Jagd auf die Böhämmer (Bergfinken). Die Böhämmer-Schützen mußten die wertvollen Vögel mittels eines Blasrohrs von ihren Schlafbäumen blasen. Dazu allerdings bedurfte es eines guten Atems und kräftiger Lungen. Der Nachweis, darüber zu verfügen, war erbracht, wenn man mit dem Blasrohr einen Lahrer Hinkenden durchgeschossen hatte.

Der Hinkende Bote im Sprichwort
Schon sehr früh wurde die Figur des Hinkenden Boten sprichwörtlich. In der Redewendung "Der Hinkende Bote kommt nach" in der Bedeutung "Nach der guten Botschaft kommt die unangenehme nachgeschlichen" spielt neben den Kalendern auch der Böse, der Teufel mit dem hinkenden Bein hinein. Aus dem Schwäbischen ist die Redensart auch in der Form "Er hinkt wie der Bote aus Lahr" überliefert.

Der Hinkende Bote und Bismarck
Auf die Redensart "Er hinkt wie der Bote aus Lahr" wurde in der deutschen Presse auch Bezug genommen, als der Lahrer Stadtrat 1875 dem Reichskanzler Bismarck die ihnen soeben von einem reichen Lahrer vermachte Villa samt Park als Sommerresidenz zur Verfügung stellen wollte. Der Vorgang wurde in den Zeitungen heftig diskutiert. Eine Zeitung meinte, Bismarck könne das Anerbieten schwerlich annehmen. Man stelle sich nur vor, er würde von Lahr aus ein Dekret erlassen. Da würde man doch nur sagen: "Er hinkt wie der Bote aus Lahr." Eine andere Zeitung meinte, aus Lahr sei bislang nur Unangenehmes bekannt geworden: der Hinkende Bote, der alljährlich seinen Dreckkübel ausschütte. Man befand sich damals mitten im Kulturkampf, in dem der Hinkende streitbar Stellung gegen den Ultramontanismus nahm.

Der Hinkende in Brasilien
In dieselbe Zeit fällt auch der Bericht eines deutschen Ingenieurs aus Brasilien in der Rhein-Neckarzeitung:
"Ich war erstaunt, in der Umgebung von Itajahi Brüsque fast bei jedem Kolonisten den Lahrer Hinkenden Boten, einen köstlichen Volkskalender, der in Lahr in Baden gedruckt wird, an der Wand hängend zu finden. Auf meine Frage, wie es komme, daß dieser treffliche Landmann hier zu Lande so sehr verbreitet sei, antwortete man mir, daran sei lediglich das Wüten der Geistlichkeit und insbesondere des Pfarrers Gattone schuld. Wenn der tapfere Seelenhirt, der in Hildesheim eine Jesuitenerziehung empfing, den Hinkenden gehörig heruntergekanzelt hat, poltert er gegen das deutsche Reich und dessen Fürsten in nicht wiederzugebenden Ausdrücken, weiter und läßt, wie man zu sagen pflegt, kein gutes Haar an seinem eigenen Vaterland. Der Küster dieses Ehrwürdigen hat zugleich einen Kramladen und kann deshalb nicht umhin, den Hinkenden Boten in Hunderten von Exemplaren kommen zu lassen und zu verkaufen. Die frommen Herren haben auf solche Art für den Lahrer Kalender bald die ganze Welt erobert. Es wird beinahe eine Million gedruckt, wovon etwa 100 000 Exemplare über den Ozean gehen."

Der Hinkende und der Seeteufel
Felix Graf Luckner, der Autor des "Seeteufels", erinnerte sich 1959 anläßlich eines Vortrags in Lahr an den Hinkenden Boten. Sein Vater habe die Geschichten vorgelesen, und sein ganzes Leben lang traf er in aller Welt auf den Kalender. Er schrieb in ein Exemplar von 1959: "Schiffe können sinken, der Ruf und die alte Tradition des Lahrer Hinkenden Boten aber nie. Mein Vater - gestern wäre er 136 Jahre alt geworden - hat schon als Kind viele Weisheiten daraus geschöpft."
Immerhin lag die Kinderzeit des Vaters in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts! Schon damals also kannte man den Lahrer Kalender auch weit über die Grenzen von Baden hinaus.

Der Hinkende und die Quellen
Auch bei den Soldaten der kanadischen Einheit, die lange Jahre in Lahr stationiert war, erfreute sich der Einbeinige so großer Beliebtheit, daß sie um die Erlaubnis nachsuchten, ihn als Symbol führen zu dürfen. Die Genehmigung traf in Lahr ein. Stolz präsentierte 1984 Major Brown dem Verleger Jörg Schauenburg die Urkunde: Keine Geringere als Queen Elizabeth hatte die Urkunde unterzeichnet. Gleichzeitig wurde der Verleger zum Ehrenmitglied der Einheit ernannt, eine Ehrung die bis dahin noch keinem Nicht-Kanadier zuteil wurde.


 



Die kanadische Einheit, die lange Jahre in Lahr stationiert war, führte den Lahrer Hinkenden Boten als Symbol im Wappen, mit Unterschrift bestätigt von Königin Elisabeth.