Kreuzfahrt an der Datumsgrenze
von Peter Voss

Jules Vernes Roman "Reise um die Erde in 80 Tagen” war seinerzeit ein Bestseller, und wie viele seiner Bücher besteht auch dieses aus einer Mischung von Utopie und einem gehörigen Schuß in die Zukunft gerichteter Vorausschau. Die Romangeschichte handelt von einem gewissen Phileas Fogg, waschechter englischer Gentleman und Mitglied eines vornehmen Clubs der leicht versnobten Londoner Gesellschaft. Niemand in dieser illustren Runde hatte bis dato sagen können, von Fogg etwas Bemerkenswertes gehört zu haben. Erstaunlicherweise kannte er sich jedoch in der Welt gut aus. Eines Tages entwickelte sich aus einem belanglosen Gespräch eine Wette um 20.000 englische Pfund. Fogg bestand darauf, daß es möglich sei, die Welt in 80 Tagen zu umreisen. Angesichts der unzulänglichen Transportmittel, eine für damalige Verhältnisse schiere Unmöglichkeit. Begleitet von seinem Diener Jean Passepartout wurde noch am selben Tage, einem 2. Oktober, der Reiseantritt festgesetzt. Wollte er die Wette gewinnen, mußte er bis zum Samstag, dem 21. Dezember, um 20.45 Uhr, zurück sein.

Mit vielen Hemmnissen gespickt führte die Route von London über Suez-Bombay-Kalkutta-Hongkong-Yokohama-San Franzisco-New York zurück nach London. Alle Mühe schien dennoch vergebens, da es nach Foggs Berechnung bereits Sonntag war, als er in London eintraf. Minuten vor Ablauf der Wettfrist brachte ihm jedoch sein treuer Diener die überraschende Nachricht aus der Stadt mit nach Hause, daß es erst Samstag sei. Gerade noch rechtzeitig und zum Erstaunen aller betrat Fogg daraufhin am Samstag, dem 21. Dezember, Glockenschlag 20.45 Uhr, den Club. Die Wette war somit gewonnen.

Wie nur konnte es einem so pedantisch alle Einzelheiten planenden Menschen passieren, sich um einen Tag verrechnet zu haben? Die Lösung ist denkbar einfach. Auf seinem Weg um die Erde, wohlgemerkt in östlicher Richtung, hatte er einen Tag hinzugewonnen. Wäre er hingegen gen Westen gereist, hätte er einen Tag verloren. Denn wer in östlicher Richtung, also der aufgehenden Sonne entgegen, reist, gewinnt mit jedem Längengrad vier Minuten: Macht bei 360 Grad genau 24 Stunden. Fogg sah demnach die Sonne 80mal aufgehen, seine Clubkameraden hingegen nur 79mal. An dieser Tatsache hat sich nichts geändert, gleich ob man wie seinerzeit Fogg mit Postkutsche, Segelschiff oder Dampflok in 80 Tagen um die Welt reist oder heutzutage mit dem Flugzeug in rund 48 Stunden. Wohl aber, daß Reisende unserer Tage bei Langstreckenflügen gewöhnlich unter einem sogenannten "jet-lag” leiden, d.h. ihr biologisches Gleichgewicht bisweilen gehörig in Unordnung gerät.

Am 10. Oktober 1970 wurde das Südseeparadies Fidschi nach 196 Jahren britischer Kolonialherrschaft in die Unabhängigkeit entlassen. Nicht, daß es aufgrund besonderer Reichtümer oder Bodenschätze ehemals erstrebenswert gewesen wäre, sich die 322 Inseln - nur etwa 100 davon sind bewohnt - einzuverleiben, aber zur Dokumentation seines Großmachtanspruchs sowie im Wettlauf mit anderen Kolonialmächten schien dieser Schritt für Großbritannien unausweichlich. Mitten durch das zu verwaltende Inselreich aber verlief, zunächst jedenfalls noch, die 1845 festgesetzte internationale Datumsgrenze, eine dem 180. Längengrad folgende Linie, bei deren Überschreitung eine Datumsdifferenz von einem Tag auftritt. Anders als im benachbarten Tonga oder Samoa, deren Territorien ganzheitlich auf einer Seite der Datumsgrenze liegen, führte dies bei Fidschi zwangsläufig zu allerlei Verwicklungen und Kuriositäten. So wird die drittgrößte Fidschiinsel Taveuni unmittelbar südlich des Ortes Waiyevo vom 180. Längengrad durchschnitten. Die Stelle ist auch heute noch angezeigt. Ein ebenso cleverer wie schlitzohriger Händler behauptete gar, die Datumsgrenze verlaufe mitten durch seinen Verkaufsladen. Er suchte damit die Vorschrift der Missionare, an Sonntagen keine Geschäfte zu tätigen, zu umgehen. Denn wäre es in der einen Haushälfte noch Sonntag, befände man sich in der

anderen bereits im folgenden Werktag. Nicht minder gewieft verhielten sich die gewinnsüchtigen Plantagenbesitzer. Sie verweigerten den armen Landarbeitern selbst den arbeitsfreien Sonntag und schickten sie an diesem Tage einfach in einen anderen Teil der Plantage mit der Behauptung, dort sei bereits Montag. Schließlich wurde 1879 durch eine Verordnung entschieden, daß die internationale Datumsgrenze abweichend weiter nach Osten verlegt wurde. Damit erhielten nicht nur ganz Fidschi, sondern auch andere britische Kolonialgebiete wie Neuseeland eine einheitliche Tagesdatierung. Bei dieser Regelung ist es bis heute geblieben.

Besonders im Mittelalter, jedoch auch in der Nachfolgezeit der großen Ent-

deckungsfahrten wurden allerlei Überlegungen angestellt, welche Konsequenzen sich generell ergeben, wenn große Distanzen, also Raum und Zeit, überwunden werden. Der Gedanke lag nahe, daß ein der untergehenden Sonne Nachreisender nicht nur den Tag,

sondern auch sein Leben verlängert

sähe. Auch die im 19. Jahr-

hundert festgesetzte Datumsgrenze wurde in dergleichen Gedankenspielereien einbezogen, wie dies von

Umberto Eco in seinem Roman

"Die Insel des vorigen Tages” auf eine schriftstellerische Spitze getrieben wurde. Schließlich hat der Traum von ewiger Jugend die Menschheit seit jeher ebenso beschäftigt wie der vom Fliegen. Letzterer wurde erfüllt, ersterer wird jedoch für immer unerfüllt bleiben, auch wenn sich mit der bemannten Raumfahrt unserer Tage in dieser Hinsicht neue Aspekte ergeben.

So wird auch der Schritt ins Jahr 2000 für das Gros der von Alltagssorgen geplagten Menschheit ein Tag wie jeder andere sein. Für andere wiederum ist es ein außergewöhnliches Ereignis, das es je nach Landessitte gebührend zu feiern gilt. Die Vorbereitungen für alle möglichen offiziellen und privaten Festivitäten jedenfalls sind weltweit längst in vollem Gange.

Vor allem entlang der Datumsgrenze, in Neuseeland, Fidschi, Tonga oder Samoa werden große Anstrengungen unternommen, diesen Standortvorteil in klingende Münze umzusetzen. Interessanterweise fällt auf, daß man dabei die vom 180. Längengrad nach Osten verlegte Datumslinie völlig ignoriert, wenn damit Werbungsvorteile zu erzielen sind.

Eine wohlhabende Klientel, der Jetset dieser Welt, dürfte sich aber den Reiz des Besonderen kaum entgehen lassen, das neue Millenium direkt an der magischen Linie zwischen Gestern und Heute zu erwarten. Sei es in einem der exklusiven Ferienresorts Polynesiens, während eines Segeltörns oder auf einem Kreuzfahrtschiff.

Bleibt für alle Daheimgebliebenen die Tatsache, daß während wir noch im alten Jahrtausend verharren, auf der ande-

ren Erdhälfte das neue bereits begonnen hat.




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