Vom Turnen zum Sport-Event
von Dietrich von Boecklin

Die vergangenen beiden Jahrhunderte waren für die Entwicklung des Sports von entscheidender Bedeutung. Die Turnbewegung, der Sportimport aus England und die Wiederaufnahme der Olympischen Spiele kennzeichnen das 19. Jahrhundert. Der Name vieler Schulen und Straßen erinnert auch an Johann Heinrich Pestalozzi (1746 bis 1827). Der schweizerische Pädagoge, Schriftsteller und Sozialreformer hatte neue pädagogische Grundsätze entwickelt. Sportgeschichtlich bedeutsam war seine Publikation "Über Körperbildung als Einleitung auf den Versuch einer Elementargymnastik in einer Reihe körperlicher Übungen (1807)." Der Wissenschaftler Johann Chr. F. Guts Muths (1759 bis 1839) hatte bereits 1793 eine "Gymnastik für die Jugend" geschrieben als Grundlage für die Leibeserziehung junger Menschen, die er zu "würdigen Vaterlandsverteidigern vorschulen" wollte. Die Fürsten hatte Guts Muths aufgefordert, wieder Olympische Spiele abzuhalten.

Auch Friedrich Ludwig Jahn (1778 bis 1852), vielfach als "Turnvater Jahn" bezeichnet, hatte sich, wie die Dichter Ernst Moritz Arndt und J. Görres sowie der Philosoph Schleiermacher, in den Dienst der nationalen Sache, also vor allem der Befreiung von französischer Bevormundung, gestellt. Sein System der Leibesübungen nannte Jahn "Turnen". Das nichtdeutsche Wort "Gymnastik" wollte er durch das vermeintlich urdeutsche Wort "Turnen" ersetzen. In Jahns "Deutscher Turnkunst" von 1816 heißt es: "Die Turnkunst soll die verlorengegangene Gleichmäßigkeit der menschlichen Bildung wiederherstellen, der bloßen einseitigen Vergeistigung die wahre Leibhaftigkeit zuordnen und im gesellschaftlichen Zusammenleben den ganzen Menschen umfassen und umgreifen."

Zu Jahns Konzept gehörten die natürlichen Bewegungsformen gehen, laufen, springen, werfen, klettern, schwimmen

und geräteturnen. Pferd, Klettergerüst,

Schwebebalken und Ringe hatte Jahn als Turngeräte übernommen, Barren und Reck neu entwickelt. Turnen sollte öffentlich betrieben werden. Uniformierte Kleidung (grauer Leinenanzug) und das turnbrüderliche "Du" sollten das Gemeinschaftsbewußtsein fördern. Die Turnerschaft wurde in Riegen unter Führung von Vorturnern gegliedert. Nationale Ansprachen, Rezitationen und vaterländische Lieder umrahmten den Übungsbetrieb. Die von Metternich gesteuerte restaurative Politik des Deutschen Bundes nach dem Wiener Kongreß (1815) brachte die Turner immer mehr in Opposition. Jahn wurde 1819/1820 als "Demagoge" inhaftiert, stand später unter Polizeiaufsicht, wurde 1848 in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt. Die meisten deutschen Staaten erließen zwischen 1820 und 1840 Turnverbote. Die Turner griffen bei der Revolution 1848 zu den Waffen, spalteten sich nach weiteren Repressalien in ein gemäßigtes und ein radikales Lager. Sie blieben ein Sammelbecken nationaler Gesinnung. Sozialisten und Juden wurden diskriminiert. Es gab sogar einen antisemitischen deutschen Turnerbund (1893).

Festzuhalten bleibt, daß Turnen als Volksbewegung Mitte des 19. Jahrhunderts auch in allen deutschen Staaten als Schulfach eingeführt wurde. Die offizielle Begründung dafür lautete: Gesundheitsförderung, Ausgleich für geistige Arbeit, Vorbereitung auf den Militärdienst, Erziehung zu Disziplin und Ordnung.

Zur selben Zeit griff der englische Sport auf den Kontinent über. "Sport" stammt aus dem Sprachgebrauch des englischen Adels und bedeutet Zerstreuung, Spiel

(to disport: sich vergnügen; lateinischer Wortstamm disportare: sich abwenden, zerstreuen). Den Begriff "Sport" als Vergnügen und Summe aller körperlichen Betätigung (also ohne Denksport wie Schach und Kartenspiel) führte Hermann von Pückler-Muskau 1828 nach einer Englandreise in den deutschen Sprachraum ein. Spezifisch englisch waren Leistungsprinzip (Streben nach Höchstleistung) und Leistungsvergleich (Wettkampfwesen mit bestimmten Regeln). Beliebteste Sportarten waren Fußball, Hockey, Tennis, die in Clubs gespielt wurden.

In anderen Sportarten fanden früh erste Weltmeisterschaften statt (1831 Rudern, 1860 Golf, 1867 Boxen, 1869 Schwimmen). Die technische Entwicklung führte zum ersten Autorennen 1887. 1896 begannen die Olympischen Spiele der Neuzeit. Zur Vermeidung von Wiederholungen darf ich auf meinen Beitrag "Vom Kult zum Kommerz - 100 Jahre Olympische Spiele der Neuzeit" (Lahrer Hinkender Bote 1996) verweisen.

Der englische Import und Neu-Olympia hatten einen großen Aufschwung des Sports um die Jahrhundertwende zur Folge. Die Sportarten wurden ausgeweitet (Handball in Deutschland) und internationalisiert. Über Sportereignisse wurde in Tageszeitungen und eigenen Sportzeitschriften berichtet. Die Produktion von Sportartikeln entwickelte sich zu einem neuen Wirtschaftszweig, der mit dem und für den Sport werben mußte. Bereits 1892 existierten in Deutschland 5000 Sportvereine. Die Turner hatten sich übrigens vergebens gegen die Ausweitung des Sports gewandt.

Ein wichtiger Nachtrag zum 19. Jahrhundert: Aus der Industrialisierung und im Gegensatz zu den "bürgerlichen" Vereinen entwickelte sich ein eigener Arbeitersport. Er verstand sich, wie die Arbeiterbildungs- und -gesangvereine, als Teil der allgemeinen Arbeiterbewegung gegen soziale Diskriminierung. Eine eigene Arbeitersportpresse kritisierte schon um 1900 den Schau- und Sensationssport sowie die Massenpsychose mit Heroenverehrung und agitierte gegen den elitären Spitzensport sowie gegen den verkappten Berufssport. Diese frühe "alternative" Sportbewegung entrüstete sich über die Geschäftemacher und das gedankenlos konsumierende Publikum, verabscheute Sensationsgier und geistige Anspruchslosigkeit. Als schlimmstes Übel galt die Käuflichkeit der Sportler. Auch nach 100 Jahren noch (oder wieder) aktuelles Gedankengut! Im 20. Jahrhundert fanden noch drei Arbeiterolympiaden statt (1925 Frankfurt, 1931 Wien, 1937 Antwerpen), die auch "gegen Krieg, für Freiheit und Sozialismus" gerichtet waren. Der Arbeitersport wurde in Deutschland 1933 verboten und lebte nach dem Zweiten Weltkrieg nur noch in Ansätzen auf.

Vor und nach dem Ersten Weltkrieg (1914 bis 1918) hielt der Sportboom an. Massenveranstaltungen kamen auf: Am ersten Turn- und Sportfest 1922 in Leipzig wurden 100.000 Teilnehmer gezählt. 1924 wurde der deutsche Sportbund als Dachorganisation der Sportverbände gegründet. Bei fortschreitender Politisierung haftete der Turnerschaft weiterhin der Ruf als Sammelbecken national gesinnter Kräfte an. Die Arbeitersportvereine fühlten sich der sozialistischen Arbeiterbewegung zugehörig. Es entstanden Wehrsportgruppen, mit denen die im Versailler Vertrag verbotene Wehrpflicht ersetzt werden sollte. Gepäckmärsche, Hindernisläufe, Kleinkaliberschießen, Boxen, Keulenwerfen zählten zu den wehrsportlichen Disziplinen. Der Sport blieb wie im 19. auch im 20. Jahrhundert ein Spiegelbild der geistigen und politischen Entwicklung.

Der Nationalsozialismus verordnete die Gleichschaltung des Sport. Die Eingliederung der Turnerschaft in das NS-Machtsystem verlief aufgrund des ähnlichen "Gedankengutes" problemlos. Die Arbeitersportverbände wurden 1933, die konfessionellen Sporteinrichtungen 1935 verboten. Der gesamte Sport war im Dritten Reich im Reichsbund für Leibesübungen organisiert, der von Reichssportführer von Tschammer und Osten geleitet wurde. Die NS-Doktrin von der rassisch bedingten Überlegenheit des deutschen Volkes führte dazu, daß der Sport in der Pädagogik eine Schlüsselposition erhielt. In den Schulen waren wöchentlich fünf Sportstunden vorgeschrieben, die hoch bewertet wurden. Die wehrsportlichen Übungen wurden teilweise in den Sportunterricht übernommen. Eine vormilitärische Ausbildung in der Hitlerjugend kam hinzu. Die Olympischen Spiele 1936 in Berlin sollten vor allem nationale Geschlossenheit und Überlegenheit der nordischen Rasse demonstrieren.

Der Rückschlag des Sports durch den Zweiten Weltkrieg war deutlich größer als der durch den Ersten. 1945 waren die meisten Sportstätten zerstört oder zweckentfremdet, der Sport zusammengebrochen. Die Siegermächte beurteilten den Sport als Instrument der NS-Ideologie. Die Sportvereine wurden verboten, später auf Antrag wieder zugelassen. Auch die deutsche Teilung wirkte sich auf den Sport aus: Es entstanden eigene Organisationen in West und Ost.

Der Wiederaufschwung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts betraf vor allem auch den Leistungssport, der in der DDR wie in den anderen sozialistischen Ländern vom Staat finanziert, dirigiert und als Aushängeschild politisch ausgenutzt wurde. Der Wiederaufbau der westdeutschen Wirtschaft war Mitte der 60er Jahre abgeschlossen und hatte seit den 70er Jahren eine zunehmende Fernsehdichte in der Bundesrepublik zur Folge. Deren Auswirkungen auf den Sport sind bekannt: Der Zuschauer sitzt bei Großveranstaltungen in aller Welt

"in der ersten Reihe", mit größtem

Recht, wie er glaubt. Private, werbefinanzierte Fernsehanbieter vergrößer-

ten das TV-Sportangebot und damit die Abhängigkeit des Leistungssports von der wer-bungtreibenden Wirtschaft, die

nur bei hohen Einschaltquoten investiert.

Auch der Freizeitsport außerhalb der Sportvereine geriet in den Sog der Kommerzialisierung: Das Angebot vergrößerte sich durch ständig wechselnde Fun-Sportarten, und Touristikunternehmen, Sportgeschäfte sowie Sportartikelhersteller bieten inzwischen Sportevents und -reisen an. Derzeit besuchen 3,4 Millionen Bundesbürger 5500 Fitneß-Studios. Wirtschaftsunternehmen organisieren und vermarkten den Sport. Vereine und Verbände werden zu umsatzstarken Wirtschaftsunternehmen oder werden, wenn sie dies nicht schaffen, auch finanziell an den Rand gedrängt. Sportveranstaltungen werden immer häufiger zu "Geldmeisterschaften" und können nur durch den Verkauf von Fernseh- und Werberechten finanziert werden. Finanzielle Abhängigkeit ist der Preis für immer mehr, immer spektakulärere Sportereignisse.

Auf die Gefahren wurde oft genug hingewiesen: Der Sport verliert seine Unabhängigkeit und Selbständigkeit; er unterliegt sportfremden Einflüssen. Da nur wenige Sportarten und -ereignisse einen hohen Werbewert besitzen, schöpfen verhältnismäßig wenige Spitzensportler in telegenen Sportarten den Rahm ab. Da die Entwicklung nicht umkehrbar ist, müßten wenigstens die negativen Auswirkungen wie Doping und Krawalle von sogenannten Fans begrenzt werden. Sportwissenschaftler sehen Gewalt im Sport auch als Folge der Kommerzia-

lisierung und Professionalisierung. Hierzu gehört die betrübliche Feststellung, daß die Fair-Play-Gebote (Anerkennung der Regeln, Respektierung des Schiedsrichters und Achtung vor dem Gegner) vielfach als antiquiert angesehen werden. Ein Blick über die Grenzen zeigt, daß Vereine zu Aktiengesellschaften werden (England, Spanien), im Besitz von Familien, Medienunternehmen oder Großinvestoren sind, die mit Fußball - bar jeden sportlichen Interesses - "handeln wie mit Schweinebäuchen (Spiegel)".

Die Sportzeitschrift "Kicker" gab im Herbst 1998 einen Einblick in gewaltige finanzielle Größenordnungen. Danach hat der deutsche Profifußball in der Saison 1997/98 1,23 Milliarden Mark umgesetzt. 980 Millionen Mark betrug allein der Umsatz der Bundesliga. 246 Millionen Mark betrugen die Einnahmen aus dem Kartenverkauf bei den Bundesligaspielen (Schnitt pro Karte 25,80 Mark). 105,9 Millionen Mark erzielten die 18 Bundesligaklubs aus der Trikotwerbung. Für die Übertragung der Bundesliga- und Zweitligaspiele bezahlten die Fernsehanstalten 320 Millionen Mark. 480 Millionen Mark verzeichnete SAT 1 insgesamt an Werbeeinnahmen in den Sendungen "ran" und "ranissimo". 460 Millionen Mark zahlten die Vereine an Spieler und Trainer. Die Gehälter sind

in den vergangenen Jahren um 300 Prozent gestiegen; die Klubs bekommen diese Explosion der Ausgaben kaum mehr in den Griff. 395 Millionen Mark müssen die beiden Profiligen an Umsatz-, Körperschafts- und Lohnsteuer zahlen. Diese Zahlen wurden mit der Bemerkung "Tendenz steigend" veröffentlicht.

Bei einer Untersuchung des Breitensports kam die Problematik der Sportvereine zur Sprache: Nur 18 Prozent der Deutschen - so der bekannte Freizeitforscher Professor Opaschowski - engagieren sich noch freiwillig im ehrenamtlichen

Bereich (Europa-Schnitt 27 Prozent). Seine allgemeine Prognose lautet: "Das

21. Jahrhundert wird eine ,Gesellschaft von Ichlingen' hervorbringen, in der

die Interessen des einzelnen im Vordergrund stehen. Die Generation lebt unter der ständigen Angst, etwas zu verpassen."



 



Friedrich Ludwig Jahn, auch als "Turnvater Jahn" bekannt, förderte das Turnen nicht nur aus gesundheitlichen, sondern auch aus Gründen der nationalen Erziehung.


Neben Jahn förderte Johann Chr. F. GutsMuths (1759 bis 1839) die Entwicklung und Verbreitung der Leibesübungen aus philantropischen Gründen und um junge Menschen zu "würdigen Vaterlandsverteidigern vorzuschulen".

 


 


1811 eröffnete Friedrich Ludwig Jahn in der Hasenheide bei Berlin den ersten Turnplatz. (Aus Brunner, F. L. Jahn, Velhagen und Klasings Volksbücher, 1912)