Die Standrede des Lahrer Hinkenden Boten über neue Technologien

Der Hinkende Bote staunte nicht schlecht, als er eine knappe Stunde vor der verabredeten Zeit den "Goldenen Löwen" in Lahr betrat, um sich, wie alljährlich, mit seinen Freunden zu treffen. Der "Löwen"-Wirt, seine Frau und Cilly, die langjährige Bedienung, legten gerade letzte Hand an einer prächtig dekorierten Tafel an, um die sich die Stammtisch-Runde des Hinkenden versammeln sollte. "Ich hab's Dir im Vorjahr versprochen, daß die 200. Wiederkehr in Deine Heimatstadt besonders gefeiert wird. Die Weine, die besten vom Schutterlindenberg, sind genau temperiert, die Küche ist gerüstet, und wir, die Gastgeber, sind bester Stimmung", kündigte der "Löwen"-Wirt an, als er den Hinkenden herzlich umarmte, ihm Umhang und Dreispitz abnahm. "Außerdem sind wir", ergänzte die "Löwen"-Wirtin, "auch auf das andere große Ereignis dieses Jahreswechsels vorbereitet" und deutete auf die Stirnwand des Raumes, auf der groß "2000" prangte.

"Zum Jahreswechsel", befürchtete Cilly, "wird's wohl viel Rummel geben, wenn das neue Millenium beginnt. Wer will es auch den Leuten verdenken, wenn sie die erste 2 vor den Jahreszahlen willkommen heißen". "Dabei", tröstete sie der Hinkende, "wird es in Lahr ja vergleichsweise gemütlich zugehen, selbst wenn sich alle ,Männli, Wiiwli un Lohrer' zu einem einzigen großen Fest zusammenfinden würden". In den Metropolen der Welt oder wo sonst immer die Wechsel-Events gefeiert werden, dürfte die Gigantomanie neue Rekorde brechen, so daß gar nicht erst die Frage aufkommen kann, ob es sich nicht doch um einen Jahreswechsel wie jeder andere handelt. "Wenn auch rein rechnerisch das dritte Jahrtausend erst am 1. Januar 2001 beginnt", ergänzte der "Löwen"-Wirt, "wollen auch wir uns der Magie der neuen Zahl 2000 nicht entziehen".

"Zumal da am Jubiläum des Lahrer Hinkenden Boten keine Zweifel erlaubt sind", betonte der Bürgermeister, der sich hinzugesellt und die letzten Worte des Wirts gehört hatte: "Der erste Kalender des 'Hinkenden Bott', wie er im ersten Jahrzehnt geheißen hat, ist 'auf das Jahr 1801' erschienen, so daß die 200. Ausgabe 'auf das Jahr 2000' fällig wird." Der Bürgermeister, die Steinbächin, der Lehrer, der Schmiedxaver, der Schneidernaz und der Bachhuber, die nacheinander eingetroffen waren, lobten die Vorbereitungen des "Löwen"-Teams, und dem Hinkenden Boten wurde am Tisch der Ehrenplatz zugewiesen, eingerahmt vom Bürgermeister und der Steinbächin, die vor drei Jahren die Herrenrunde aufgebrochen und für einige neue Akzente in den Gesprächen gesorgt hatte. Als Cilly begann, die Vorspeise zu servieren, wurde sie von der "Löwen"-Wirtin unterstützt, während der Wirt dazu einen trockenen Weißburgunder Kabinett 1997 einschenkte. Nach dem ersten Prost und dem ersten Lob an die Küche erinnerte der Hinkende an seine Standrede vor 100 Jahren, als er das 19. Jahrhundert für seine "epochalen Entdeckungen und Erfindungen" gerühmt hatte: die Eisenbahn, die Elektrizität, das Telefon, die Photographie, die Lithographie. Die industriell genutzte Dampfmaschine hatte er als die größte Erfindung jener 100 Jahre bezeichnet. Na ja, sinnierte der Hinkende, während er dem Weißburgunder zusprach, ich habe mit einiger Berechtigung das Gesetz für die Gewerbefreiheit als wichtigstes jenes Jahrhunderts gelobt, weil es "dem deutschen Volk die Kraft nach innen gab". Sinnvoll ergänzt, so dachte ich damals, wurde es vom "Wehrgesetz", das "dem deutschen Volk die Kraft nach außen" vermittelte. Folgerichtig erkor ich bei der Standrede 1900 Bismarck als "größten Mann des 19. Jahrhunderts". Lassen wir's dabei, dachte der Hinkende, ich behalt' diese historischen Einschätzungen für mich, sonst eröffne ich in dieser Runde noch einen "Historikerstreit" über das 19. Jahrhundert. Der Hinkende blickte noch eine Weile gedankenverloren in die Runde, in der bereits lebhaft über das 20. Jahrhundert diskutiert wurde, durchaus kontrovers, wie er bemerkte, als er sich von seinen Erinnerungen löste.

Das Geschirr der Vorspeise wurde ab- und der Hauptgang aufgetragen. Danach erhob der Hinkende sein Glas, es war nun mit einem Spätburgunder 1994 vom besten Faß gefüllt, und schlug vor: "Halten wir es doch, wenigstens für die nächsten Stunden, mit unserem alemannischen Landsmann und Dichter Martin Walser, der nun ohne "Moralkeule" leben will und haken einfach das 20. Jahrhundert mit seinen Katastrophen ab". "Ja", ergänzte die Steinbächin, "nix gesehen, nix gehört, nix gesagt, nix getan und nix gelernt - mit diesem Motto läßt sich sicher auch das 21. Jahrhundert ertragen." "Vielleicht gelingt es den Deutschen", der Schneidernaz gab sich optimistisch, "sich in den nächsten 100 Jahren europäischem Standard anzupassen, integriert in ein einiges Europa". "Ja, der Euro wird's schon richten", meinte der Lehrer etwas süffisant.

"Nein, bitte ernsthaft", unterbrach der Hinkende den Disput, "laßt uns überlegen, welche Probleme die ersten Jahre und Jahrzehnte des neuen Jahrhunderts bestimmen könnten". "Angesichts der rasanten Entwicklung in den vergangenen Jahrzehnten ist eine Prognose sehr riskant", warnte der Bachhuber und zählte auf: "Friedliche Nutzung der Atomkraft" - "mit inzwischen beschlossenem Ausstieg", warf die Steinbächin ein - "Raumfahrt, Computer- und Informationstechnik sowie Bio- und Gentechnologie - wer, außer Futurologen und Science-fiction-Schriftstellern könnte da noch Entwicklungen prophezeien?"

Der Hinkende Bote bezeichnete die gesamte Biotechnologie als größte Herausforderung für Wissenschaft und Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Den Gentechnikern sei es nämlich nicht nur gelungen, Schafe, Kälber, Affen und andere Tiere zu klonen, sondern aus Seoul wurde Ende Dezember 1998 auch gemeldet, daß südkoreanische Forscher einen menschlichen Embryo aus ausgewachsenen Zellen geklont hätten. Der Embryo sei allerdings nicht in eine Gebärmutter eingepflanzt worden, das Duplikat eines Menschen also nicht entstanden. Den Einwänden aus der Runde, daß diese Behauptungen aus Fernost nicht kontrolliert werden könnten und europäische Wissenschaftler Zweifel angemeldet hätten, begegnete der Bach-

huber mit dem Hinweis auf Dr. Seed. Dieser Pionier der künstlichen Befruchtung habe ebenfalls Ende 1998 in Chicago angekündigt, daß er Menschen klonen werde. "Überall, wo künstliche Befruchtung praktiziert wird, besteht potentiell die Möglichkeit, Menschen zu klonen", zitierte die Steinbächin den gläubigen Christen Dr. Seed, der von sich überzeugt sei, daß er im Interesse der Menschheit handle. "Gott ist mit uns, Gott hat mir gesagt, was ich zu tun habe", davon ist der amerikanische Wissenschaftler überzeugt.

"Dabei kommen die schärfsten Proteste gegen eine ,Produktion von Menschen' gerade aus den christlichen Kirchen", wandte der Bürgermeister ein, "aber auch Politiker, Wissenschaftler und Ethiker haben entschieden gegen das Klonen von Menschen protestiert. Die Forschung allerdings, so einige der Betroffenen, sollte nicht behindert werden." "Ja", wandte der Schmiedxaver ein, "wenn es um die Freiheit der Wissenschaft geht, lassen sie kaum mit sich reden, aber für negative Folgen sind Politik und Gesellschaft zuständig".

"Die Fragen, was der Genforschung erlaubt und was mit den neuen, die Biologie revolutionierenden Erkenntnissen angefangen werden kann und darf, sind auch nicht einfach zu beantworten", räumte der Hinkende Bote ein. "Kann man das Klonen menschlicher Zellen verbieten, wenn damit menschliches Gewebe für Organ- und Gewebeersatz gewonnen und vielen Kranken geholfen werden kann?" "Wer aber garantiert", entgegnete die Steinbächin, "daß der kleine Schritt vom geklonten Gewebe zum geklonten Menschen nicht riskiert wird - aus faustischem Forscherdrang oder schnöder Gewinnspekulation?"

Der Bachhuber verwies auf das Beispiel in der Schweiz, wo eine Volksabstimmung über die Gentechnologie dazu gezwungen hatte, sich ausführlich mit dem Komplex auseinanderzusetzen. Das von einer Bürgerinitiative geforderte Verbot der Gentechnologie sei 1998 zwar nicht durchgekommen, aber der Widerstand aus großen Teilen der Bevölkerung habe doch Druck auf die Regierung ausgeübt, künftige Gesetze zur Genforschung zu verschärfen. "In Deutschland dagegen scheint nach dem empörten publizistischen Aufschrei, der von Dr. Seeds Ankündigung heraufbeschworen worden war, die Debatte über Pro und Kontra der Gentechnologie ziemlich eingeschlafen zu sein." "Nur die Befürworter machen sich im Wirtschaftsteil der Zeitungen mit realen und prognostizierten Zuwachsraten bemerkbar", meinte der Schmiedxaver, der auch zugab: "Mich juckt's schon hin und wieder, auf diesem Gebiet finanziell etwas zu riskieren" und wurde vom Schneidernaz unterstützt.

"Die Signale aus der Wirtschaft machen aber auch deutlich", betonte der Hinkende, "daß dieser neue Wirtschaftszweig, dem eine ähnlich steile Karriere wie der Computer- und Kommunikationstechnik prophezeit wird, mit nationalen Verboten nicht mehr zu stoppen ist". Auch Klonierungsverbote dürften kaum Wirkung zeigen, zumal da sie in einigen Ländern bis Anfang dieses Jahrhunderts befristet seien. Über internationale Vereinbarungen sei bisher öffentlich kaum gesprochen worden. "Also", befürchtete der Lehrer, "wird wohl auch diese vielschichtige ethische Frage 'durch die Macht der faktischen Globalisierung' entschieden werden".

Trotz der Diskussion wurde dem Essen die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt und immer wieder das Können der "Löwen"-Köche gelobt - und Cilly natürlich auch. Sie hatte aufmerksam dafür gesorgt, daß Teller und Gläser nie leer wurden, ehe nicht alle gesättigt Messer und Gabel niedergelegt hatten. Teller und Geschirr wurden abgetragen, aber in den Gläsern blieb der Stand des Roten immer gleich: Cilly legte großen Wert auf die gut badische Sitte: der Boden des Glases sollte nie zu sehen sein.

"Die Jubiläumsrunde hat sich, so scheint mir", sagte der Hinkende in eine Pause hinein, "an der letzten Konsequenz der Gentechnologie, dem Klonen von Menschen, festgebissen. Die Frage ist aber, ob der moralische Dammbruch, wenn es denn zu einem käme, nicht schon viel früher terminiert werden muß, etwa beim ersten Eingriff in die menschliche Zelle oder schon gar bei pflanzlichen und tierischen Genversuchen?" Spektakuläre medizinische Erfolge, Verbesserungen von Quantität und Qualität wichtiger Pflanzen zur Welternährung sowie ökologische Fortschritte in der Schadstoffentsorgung müßten als Pluspunkte der Biotechnologie angerechnet werden, entgegnete der Bachhuber. "Aber", gab der Hinkende zu bedenken, "werden nicht auch diesmal, wie schon bei der Atomkraft, Probleme gelöst, ohne über die Folgen Bescheid zu wissen, einfach im Vertrauen darauf, daß sich immer neue Lösungen finden lassen?" Dieser Optimismus habe sich nicht immer erfüllt, so daß gerade bei so riskanten Eingriffen in die Grundmaterie der Natur durchaus Vorsicht und Skepsis angebracht wären.

"Wir sollten aber nicht verkennen", meinte der Bürgermeister, "daß das Genomprojekt, also die Entschlüsselung des menschlichen Erbgutes, eine reizvolle Aufgabe für ehrgeizige Wissenschaftler darstellt. Begonnen wurde die Genomforschung aus medizinischen Gründen: Ursachen und Wirkungen des Krebses sollten entdeckt werden. Heute sind die Erwartungen eher noch gestiegen, aber der Forschung steht noch ein weiter Weg bevor, ehe Erkenntnisse in Arzneimittel umgesetzt werden können. Um die Netzwerke im Zellinnern analysieren zu können, müssen Biologen, Biochemiker und Physiker in bisher nie gekannter Weise zusammenarbeiten. Dank neuer Technologien könne das Projekt Genomentschlüsselung im Jahr 2005, manche Forscher meinen auch schon früher, abgeschlossen werden." "In einem Forschungsprojekt der Europäischen Union", fügte der Lehrer an, "wurde zwischen 1985 und 1996 das Erbgut der Bäckerhefe entziffert. Inzwischen sind auch die 19.000 Gene des etwa einen Millimeter großen Fadenwurms Caenorhabditis elegans entschlüsselt, des ersten mehrzelligen Lebewesens. Beim Menschen haben es die Forscher mit geschätzten 100.000 Genen zu tun."

"Im Gegensatz zur Atomkraft, deren Nutzung im Zweiten Weltkrieg aus militärischen Gründen vorangetrieben wurde, hat die Gen- und Biologietechnologie friedliche Ziele im Auge", betonte der Hinkende Bote. "Allerdings hat Anfang 1999 der britische Ärztebund vor der Entwicklung gentechnischer Waffen gewarnt, die gezielt gegen ethnische Gruppen eingesetzt und in etwa zehn Jahren entwickelt werden könnten", unterbrach die Steinbächin den Hinkenden, der aber unbeirrt fortfuhr: "Nach Hygiene, Chirurgie unter Anästhesie, Antibiotika und Impfstoffen ist die Gentherapie die vierte medizinische Revolution". Es sei endlich gelungen, genetische Informationen in die Körperzellen eines Patienten zu schleusen, um dessen Erbmaterial zu korrigieren oder zu ersetzen, das die Krankheit verursache.

"Nicht so unumstritten ist dagegen die Forschung mit transgenen Tieren, also Tieren, denen ein fremdes Erbgut eingepflanzt wurde", die Steinbächin konnte sich mit dieser Art von Tierversuchen so wenig anfreunden wie mit den bisher üblichen: "Die Wissenschaftler können zwar mit den transgenen Tieren bestimmte Aspekte menschlicher Krankheiten studieren, es existieren schon ,Alzheimer-Mäuse' und ,Krebs-Mäuse', aber es gibt genügend Kritiker dieser Versuche." "Darüber hinaus", ergänzte der Lehrer, "werden transgene Säugetiere auch genutzt, um Medikamente zur Behandlung menschlicher Krankheiten zu produzieren". Dabei hätten sich auch schon deutliche Erfolge eingestellt: In der zweiten von drei Testphasen befinde sich ein Medikament, das die Mukoviszidose zwar nicht heilen, aber den von dieser Stoffwechselkrankheit betroffenen Patienten das Leben erleichtern und verlängern könne. Die Nachkommen des ersten gentechnisch manipulierten Schafs "Tracy" und deren geklonte Geschwister würden den notwendigen Wirkstoff in großen Mengen in ihrer Milch produzieren. Davor sei der Stoff nur in geringen Mengen aus dem menschlichen Blutplasma gewonnen worden.

"Darüber hinaus werden weitere ,Medikamente aus dem Viehstall' erprobt, die extrem teure und aufwendig herzustellende Wirkstoffe ersetzen sollen", fügte der Hinkende Bote an. "In Amerika liefert das Laborschwein ,Genie', es ist ebenfalls genmanipuliert, in seiner Milch menschliches Eiweiß, das Protein C, das gegen übermäßige Blutgerinnung eingesetzt wird und Thrombosen verhindert. Auch in der Milch genetisch veränderter Ziegen finden sich ähnliche Stoffe. Das Medikament Interferon, das bei Multipler Sklerose eingesetzt wird, wurde zuerst aus gentechnisch veränderten Kolibakterien gewonnen. In der zweiten Generation stammt es aus umprogrammierten Säugetierzellen."

"1997 existierten auf der Welt bereits über 10.000 transgene Tierstämme!", die Steinbächin konnte ihr Unbehagen über diesen menschlichen Eingriff in die Tierwelt nicht verbergen, während der Schneidernaz und der Schmiedxaver an jene Patienten erinnerten, denen diese Forschung bereits zugute kommt oder die in naher Zukunft davon profitieren können. "Gegen Insulin, das inzwischen von gentechnisch veränderten Bakterien hergestellt wird, hat auch niemand protestiert", argumentierte der Schneidernaz. "Insgesamt sind am Ende dieses Jahrhunderts ohnehin schon über 50 gentechnisch hergestellte Medikamente in Deutschland auf dem Markt." Sie würden vor allem in der Krebstherapie, bei Diabetes, Blutarmut und Herzinfarkten eingesetzt.

"Sicher fällt die Zustimmung zur Gentechnologie bei der medizinischen Anwendung leichter als bei der Herstellung von Lebensmitteln", räumte der Hinkende Bote ein, "aber bei aller Euphorie in der Medizin, nach den hohen Investitionen in die Forschung erwartet die Pharmaindustrie wohl auch Gewinne, müssen Zweifel an der Gen- und Biotechnik ernstgenommen werden". Ihre Grenzen und Gefahren seien nicht abzuschätzen. Während der Bachhuber, der Schneidernaz und der Schmiedxaver die neuen Entwicklungen auch aus wirtschaftlichen Gründen mit der Aussicht auf mehr Arbeitsplätze befürworteten, hofften Bürgermeister und Lehrer auf einen Konsens aller Beteiligten und die Bereitschaft von Wissenschaft und Pharmaindustrie, bei Forschung und Produktion jene ethischen Grenzen einzuhalten, die Politik und Gesellschaft ziehen würden. Einzig die Steinbächin zeigte sich skeptisch: "Wenn erst Erschrecken, Empörung und Proteste abgeklungen sind, werden Ablehnung und emotionale Vorbehalte durch Neugier ersetzt. Schließlich gewöhnt man sich daran, das Neue wird normal, Gefahren werden verdrängt. Außerdem lehrt die Vergangenheit, daß trotz unabsehbarer Folgen das Machbare auch gemacht wird, vor allem wenn Gewinne locken".

Dieses negative Votum wollte der Hinkende Bote dann doch nicht zum Abschluß der letzten Standrede im 20. Jahrhundert unwidersprochen lassen, wenn auch bei ihm nach 200jähriger Erfahrungen viel Optimismus auf der Strecke geblieben sei. Er hoffe aber doch auf ein internationales Abkommen, damit größeres Unheil vermieden werden könne. Nationale Verbote könnten nicht greifen, da die neuen Technologien in Forschung und Produktion weltweit verzahnt seien.

"Löwen"-Wirt und Cilly hatten den Disput zum Schluß ungeduldig verfolgt, denn seit dem Hauptgang des Essens war einige Zeit verstrichen, und die Küche hatte das Dessert vorbereitet. Als es serviert war, kamen bei diesem letzten Treffen vor der Jahrtausendwende auch noch Klatsch und Tratsch zu ihren Rechten. Der "Löwen"-Wirt spendierte eine Auxerrois Beerenauslese 1994, so daß sich die Zungen weiter lockerten. Schließlich drängte der Hinkende zum Aufbruch. Cilly hatte ihm schon Hut und Umhang gebracht, als der Bürgermeister noch eine letzte Frage stellte: "Hinkender, wie lauten Deine Wünsche für das neue Jahr 2000 und das folgende Jahrhundert?" "Bürgermeister", antwortete er, "wer 200 Jahre lang immer die gleichen Wünsche geäußert hat - Frieden, Gesundheit, Wohlstand -, die, auf die Welt gesehen, noch immer unerfüllt sind, ist bescheiden geworden. Mehr als sie zu wiederholen, trau' ich mich nicht. Aber halt, da fällt mir doch noch was ein: der deutsche Nationalismus, der mich ebenfalls 200 Jahre begleitet hat, sollte endlich ohne ,völkisch-mythischen Tiefgang' auskommen." Und mit seinem traditionellen "Gott zum Gruß, bis zum nächsten Jahr" verschwand der Hinkende durch die Tür.



 



Zur letzten Stammtisch-Runde mit dem Lahrer Hinkenden Boten im 20. Jahrhundert und zweiten Jahrtausend hatte der "Löwen"-Wirt eine festliche Tafel vorbereitet.


Mit dem traditionellen "Gott zum Gruß, bis zum nächsten Jahr" verschwand der Hinkende durch die Tür.