Reichswaisenhaus
Reichswaisenhaus
von Annemarie Glaser
von Annemarie Glaser

Der Lahrer Hinkende Bote war in den vergangenen 200 Jahren keineswegs nur ein unterhaltsamer Plauderer, Berichterstatter und Kommentator. Er engagierte sich auch sozial mit größtem Erfolg, als er das erste Deutsche Reichswaisenhaus in Lahr begründete. Angefangen hat es mit einer Zigarrenspitze. Die hat, so konnte man im Hinkenden Boten auf das Jahr 1877 lesen, keinen Wert. Aber "Viele Wenig machen ein Viel. , und aus einem ganzen Hut voll kann man Schnupftabak machen. Von einem Berliner Verein, der mit dem Erlös von Zigarrenspitzen schon neun Jahre lang Weihnachtsgeschenke für Waisenkinder kaufte, hat sich der Redakteur und Kalendergeschichtenschreiber anregen lassen und rief zu einer Sammelaktion für ein "Deutsches-Reichs-Waisenhaus. auf. Die Gelder flossen im ersten Jahr aus ganz Deutschland und auch aus dem Ausland - allerdings nicht üppig, wie er und sein Verleger Moritz Schauenburg und dessen Geschäftsführer, Albert Guth, es sich gewünscht hatten. Im nächsten Hinkenden versuchte Bürklin es mit der "Geschichte einer Waise. . Über das Ergebnis berichtete er im 79er: "Es tröpfelt, aber es regnet nicht!. Und das, obwohl mehrere Zeitungen das Vorhaben unterstützten.
Noch manche rührselige Geschichte mußte geschrieben, noch mancher Aufruf mußte gedruckt werden, bis am Pfingstmontag 1885 das Waisenhaus eröffnet werden konnte. Energisch klopfte der Hinkende mit seinem Holzbein an das Gewissen seiner Leser und wußte sie immer mehr von der Idee eines Waisenhauses für Kinder aus ganz Deutschland zu überzeugen. Das paßte gut zum Selbstbewußtsein der Menschen im noch neuen Nationalstaat, war doch erst wenige Jahre zuvor das Deutsche Reich entstanden. Und ein staatliches Wohlfahrtswesen, wie wir es heute kennen, konnte man sich damals nur erträumen. Ständig wiederholte Albert Bürklin den Satz - heute würde man Slogan sagen: "Viele Wenig macht ein Viel. . Das "Wenig. ergab sich aus dem Verkauf nicht nur von Zigarrenspitzen, sondern auch von Patronenhülsen oder Streichholzschachteln. Später reimte er "Einen Pfennig nur im Jahr, für das Waisenhaus in Lahr!.
Der Ruf des damals in Millionenauflage verbreiteten Lahrer Kalenders wurde schließlich in der ganzen Welt gehört. Bald schalteten sich "Fechtschulen. ein, wie man Vereinigungen nannte, die für wohltätige Einrichtungen fochten, was soviel wie "Betteln. bedeutete. Immer reichlicher flossen die Spenden. Das änderte sich auch nicht, nachdem am Pfingstsonntag 1885 die Eröffnung des Reichswaisenhauses in einer Villa am Altvater, einem Berg im Osten von Lahr, festlich begangen worden war. Das Ziel der Aktion bestand nun darin, genügend Geld für einen Fond zu sammeln, um allein aus den Zinsen den Unterhalt und die Erweiterung des Hauses zu bestreiten.
Gute 19 Jahre nach der Eröffnung wohnten in dem ständig erweiterten Haus 58 "Zöglinge. aus zehn deutschen Ländern und ein kleiner Franzose. Die Ausgaben wurden nun von Zinserträgnissen, Spenden und durch großzügige Vermächtnisse bestritten. Vor allem von reich gewordenen Auswanderern aus den USA kamen immer wieder stattliche Beträge, mit denen auch neue Häuser gebaut wurden. Die Rubrik mit den Spendenbeträgen im Hinkenden Boten konnte sich immer mehr sehen lassen. Auch die Gönner wurden genannt, schon allein um Nachahmer zu animieren.
Beim 25jährigen Jubiläum des Reichswaisenhauses konnte eine positive Bilanz gezogen werden. Insgesamt 335 Waisenkinder waren schon erzogen worden, hatten eine Berufsausbildung erfahren und bewährten sich im Leben. Seit den ersten Pfennigen war das Vermögen auf über eine Million Reichsmark angewachsen, so daß man an den Bau eines Hauses für Mädchen denken konnte. Der Erste Weltkrieg und die Inflation von 1923 machten jedoch alle ehrgeizigen Zukunftspläne zunichte. Mehr noch, sie rüttelten an den Fundamenten, am Grundkapital. Mit der Geldentwertung war es dahingeschmolzen. Wieder halfen Deutsche, die im Ausland lebten. Es ging vorerst weiter. Doch schon bald danach streckten die Nazis ihre Hände begehrlich nach dem Objekt aus. Es wurde enteignet und umfunktioniert. Erst lange nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde das Haus wieder zurückgegeben, renoviert und als Waisenhaus neu eröffnet. Mit der Zeit ließen jedoch die Zuweisungen an Waisenkinder nach, die hohen Kosten blieben sich jedoch gleich, Ende der 70er Jahre wurde das Haus geschlossen. Ein Verein verwaltet seitdem im Sinne der Gründer die umfangreichen Immobilien. Sie werden seither von der Arbeiterwohlfahrt genutzt, die hier eine soziale Wohn- und Ausbildungsstätte für Mädchen und junge Frauen unterhält.


 



Der Lahrer Hinkende Bote als Zigarrenspitzen-Sammler.