Im rauschenden Regen bei Nacht
von Theodor Weißenborn

Vor Jahren einmal - ich wohnte in der Alten Schule in Châtelet, und es war ein Regentag im Oktober wie jetzt -, da wollte ich Kälte und Nässe fühlen auf meiner Haut und ging spät am Abend im Anorak, ohne Schirm, hinaus ins rauschende Ungemach. Ich trat auf den Hof, da sprang gleich der Wind mich an und riß mir die Kapuze vom Kopf, so daß ich sie erneut festzurren mußte unterm Kinn. Ich stemmte mich gegen den Wind, gelangte in seinen Schatten hinterm Haus, erkannte in der letzten Tageshelle die Umrisse der sich wiegenden Ulmen am Tor, ging quer über die Auffahrt zum Gemüsegarten hinüber, sah die mattschimmernden sandigen Wege zwischen den Rabatten, patschte ins Wasser, das da floß, patschte hinein und patschte hindurch bis zur Mauer, die den Garten zur Nachbarwiese hin begrenzt. Sie ist eher ein niedriger, aus Steinen geschichteter Wall, kann allenfalls ein Schaf daran hindern, sein Revier zu wechseln, und jeder Dieb kann sie mühelos übersteigen. Aber Diebe gibt es hier nicht, weil Stehlen in Frankreich verboten ist.

Jetzt in der Dunkelheit bot die Mauer mir Orientierung, denn ich machte mich daran, an ihrer Innenseite mein Grundstück zu umwandern, allein begleitet von Kuno, der mit gesenktem Kopf getreulich hinter mir hertrottete, den Sinn des Unternehmens zwar nicht verstand, aber mir glaubte wider alle Vernunft.

Ich stieg bergan, kam aus dem Gemüsegarten heraus und stieg höher, unter den schon abgeernteten Kastanienbäumen hin, an denen, schwarz vor dem nur wenig helleren Himmel, noch einige wenige faulende Blattlappen hingen. Ich roch den süßlichen Duft der Maronen, den Rauch, der aus Gaspards Röstofen den Hang heraufkam und nahrhaften Genuß versprach. Als Gaspard anfing, bei mir zu arbeiten, hatte er gefragt, ob er die Maronen ernten dürfe. - "Ja, natürlich! Warum nicht!" - Ob er sie behalten dürfe. - "Aber sicher! Was soll ich denn machen mit so vielen Maronen!" - Ob er sie mir bezahlen solle. - "Aber nein! Das müssen Sie nicht!"

Er war hocherfreut, und ich sah ihm zu bei der Ernte; er legte Netze unter die Bäume und rüttelte mit einer hakenbewehrten Stange an den Zweigen, daß ihre Fracht zu Boden prasselte. Nie sah ich so viele Maronen! Wie waren wir reich! Zentner um Zentner fuhr Gaspard mit dem Schubkarren davon, um sie zu rösten. Die Maronen waren, abgesehen von ihrem Wohlgeschmack, eine hochwertige Nahrung. Was die Familie nicht selbst verzehrte, verkaufte Gaspard in der Stadt. Der Erlös mußte für ihn beträchtlich sein. Auch die Walnüsse erntete er. Von denen allerdings behielt ich mir einen Anteil vor. Noch ungeschwefelt schmeckten sie am besten zum Wein.

Umblasen vom Wind und umrauscht vom Regen, schmeckte ich, wie ich den Hang hinaufstapfte, Walnuß und Marone, schmeckte Beaujolais Primeur und frischen Käse und schnupperte Zigarrenduft - denn gern hätte ich meinen Freund Serge bei mir zu Gast gesehen, hätte mit ihm in der Wärme des Hauses gesessen, in der Bibliothek, und die Rede hätte sein können von der Unauflösbarkeit der Antinomien, vom Russellschen Paradox oder vom Satz des Anaximander. Ich roch feuchtwarmen Mulm, furchte mit meinen Schuhen den sich sträubenden Laubbelag des Bodens, trat eine Schneise in faulenden Farn und stieß nur selten gegen einen von der Mauerkrone herabgerutschten Stein, denn Gaspard pflegte das Gelände regelmäßig zu begehen und hielt die Begrenzung instand.

Ich stapfte noch immer bergan. - Wieviel Erde brauchte der Mensch? Ich hatte des Guten zuviel, fühlte mich beschwert durch Besitz und erleichtert, wenn ich ihn fortgab.

Je höher ich stieg, um so heftiger pfiff der Wind über mir in den Wipfeln, und um so häufiger junkste der Hund, den der Regen peitschte wie mich - da stieß ich mit dem Fuß unvermutet gegen den Steinwall am oberen Ende des Grundstücks und sah, wie ich den Kopf hob, dahinter die schwarze Wand der Fichten aufragen, nicht allzu hoch, denn sie sind der Baumgrenze schon zu nah, als daß sie ihre volle Größe erreichen könnten, aber doch deutlich höher als die Wipfel der Maronniers. Und da wars, in der Dunkelheit, in der Nässe und im zerrenden Wind, das knarrende, gnarzende Geräusch, das Serge und ich im Sommer erlauscht hatten und dem wir nachgegangen waren, bis wir seinen Ursprung entdeckten: ein Fichtenstamm war zur Seite gesunken und stützte sich in halber Höhe auf seinen Nachbarn, der ihn wie mit Armen umfangen hielt, so daß er nicht zu Boden stürzen konnte, und der ihn wiegte, hin und her, indem er sich neigte im Wind bald nach der einen, bald nach der anderen Seite, immer bemüht, eine möglichst gerade Haltung zu wahren, und an der Stelle ihrer engsten Berührung war die Rinde beider Stämme zerschunden, so daß Harz austrat wie aus nicht heilenden Wunden, das trocknete, nachfloß, abermals trocknete, immer neu hervorsickerte und das - so hatte Serge es erklärt - wie Kolophonium wirkte: anhaftend und sich losreißend in unsichtbar schnellem Wechsel streicht der Bogen über die Geigensaite und bringt sie zum Klingen, und anhaftend und sich losreißend streichen die Baumstämme aneinander wie Saite und Bogen, aber beide sind Saite und beide sind Bogen, und du kannst nicht sagen, daß eines nur eines und nicht auch das andere ist. Und nur langsamer sind die Schwingungen der Baumstämme und tiefer tönen die Hölzer als die Saiten der Geige, und sie tönen so wohl, wie sies nur immer vermögen, und der Rabe krächzt nicht schlechter, als die Nachtigall singt.

Ich lauschte dem Knarren der sich wiegenden Stämme, lauschte den Atemstößen des Windes, der über mir durch die Wipfel fuhr, und fragte mich: Was ists, das da rauscht? Rauscht der Wind in den Bäumen oder rauschen die Bäume im Wind? - Ich vernahm nur das Rauschen des Rauschenden, das versunken war in sein Spiel, das sich selber lauschte, sich selbst genug, und mich doch einschloß und barg im Innern des Klangkörpers Welt.

Und durchs Rauschen ringsum in den Lüften und durchs Pladdern der Tropfen auf dem Kapuzendach an meinen Ohren drang nun das Tosen der Ouze, die vom Regen angeschwollen war und durch ihr Felsbett tobte, und ich folgte ihrem Rufen, indem ich längs der Begrenzungsmauer quer über den Berghang ging, bis da, wo der steinerne Wall abermals abknickt und flußabwärts hinunter zum Schafstall führt. In der schwarzen Tiefe hinter der Mauer, im gischtenden Wasser, stieß und rollte Gestein, dumpf unter der Erde glaubte ich es zu fühlen, wie es aufprallte, barst und sich weiterschob, rutschend, sich stauend und abermals rutschend von Stufe zu Stufe, hinab.

Noch hielt die Mauer, deren Steine hier fest gefügt und mit Mörtel verbunden sind, aber es pochte und klopfte an ihr, Stein schlug auf Stein, der weichere brach, und der härtere siegte, wie der Zirkon das Glas schneidet und der Diamant den Zirkon. Eisig wehte es herauf aus der Schlucht, durch die das Wasser dahinschoß, schmatzend und gurgelnd in der Finsternis der mond- und sternlosen Nacht, Wasser von den Planèzes unter dem Kegel des Mont Gris, Wildwasser aus dem Canyon dAutour, aus der kalten Küche der Ouze.

Müderen, stolpernden Schritts stieg ich bergab, Kuno sprang voran, ihm gings wie dem Eselchen auf dem Heimweg, das den Stall riecht. Der Stall, den er roch, war der Schafstall, dessen Umrisse vor uns, wo das Gelände sich ebnete, mehr ahnbar als sichtbar wurden. Ich ertastete den Rahmen der offnen Tür - da war ein Hauch von Wärme, der aus dem Innern des Stalles kam, und wie ich aus der Tiefe des Anorakschoßes die Taschenlampe ausgegraben hatte und jetzt durch die Tür hineinleuchtete, da glitzerte grünlich ein Augenpaar im Heu, das gehäuft in einer Ecke lag, und die Katze rief ihren Namen: "Minou!", rollte und reckte sich in ihrem Nest, ließ sich streicheln und gurrte dazu wie ein Täubchen.

Kuno schüttelte sich das Wasser aus dem Fell und wälzte sich, bis er sich trocken fühlte, ich hatte den Anorak ausgezogen, dessen Imprägnierung mich vor der Nässe geschützt hatte, entledigte mich auch der Stiefel und machte es mir im Heu bequem. Wozu sollte ich noch ins Haus gehn, da sichs hier wohlsein ließ in Heuduft und Atemwärme, während draußen - zur Steigerung des Wohlbehagens durch Kontrast - weiterhin der Regen strähnte. Umsichtig wie stets, wenn ich auf Reisen gehe, hatte ich einen Kanten Brot eingesteckt, den ich nun, in mundgerechten Bissen, genüßlich an Kuno verfütterte. Denn wer ein bißchen stinkt wie ein nasser Hund, der soll wenigstens satt zu fressen haben.

Danach wurde Kuno albern und wollte wie als Kleinkind partout auf meinem Schoß liegen. Da lag aber schon die Katze, die er inkommodierte, und ich schalt ihn ein zentnerschweres Kalb, das er sei, appellierte an sein in Kürze bevorstehendes Bachot: seine Prüfung in der Hundeschule in Bassogne, und lobte ihn, wie er sich neben mir bettete, ob seiner vernünftigen Einsicht.

Und Mensch, Katze und Hund ruhten in jener Nacht umtönt vom Rauschen des Flusses, des Regens und der Winde, die das alte Gemäuer umbliesen und ihren Schlaf mit dem Urklang der Welt erfüllten. Es war, als schlüge immer wieder, doch mit langen Pausen, ein hängender Balken weich gegen ein Gong, und das sagte jedesmal, dumpf tönend und tief aus seiner ruhenden und schwingenden und ruhenden Mitte heraus, das eine Wort: "Ommmmmmm!"


 




Und Mensch, Katze und Hund ruhten in jener Nacht umtönt vom Rauschen des Flusses, des Regens und des Windes.