Die Osterwohler Gutshaus-Nachtgeschichte
von Brigitte Lange

Es geht auf Elf, Ihr Lieben. Laßt uns noch ein paar Scheite in den Ofen legen, das Holz ist sowieso zu naß. So ist das eben. Wer keinen Wintervorrat hat, trägt sich den Regen in die Stube und läßt zur Nacht die Kälte ein. Jaja, hör ich Euch sagen, wieder so ein kluger Spruch zum Feierabend. Großmütter, lieber Sohn und liebe Schwiegertochter, schwätzen immer klug daher. Und für das Lucie-Enkel kann ich ja nun wirklich nichts. Auch nicht, daß ich mir viel Gedanken mache, seit Ihr hier im Sumpfland wohnt.

Nachts, wenn der Wind ums alte Gutshaus derer von der Schulenburg und durch die Ofenrohre pfeift, frage ich mich manchmal, wie Ihr überhaupt mit diesen siebenhundert Jahre alten Fundamenten leben könnt. Höchst sonderbar das Haus, und jedesmal kommt es mir anders vor.

Es thront am Außenrand des Dorfes in einem düsteren Park am Weiher. Dahinter fangen die Felder und die Weiden an. Von vorne scheint es fachwerkhölzern, feldsteinsockelig zu grienen, vom Hof aus hat es was von Pellkartoffeln. Sein Innenleben ist konfus. Alle möglichen Epochen, von der Gotik bis zum ausgemusterten Kulturhauskitsch, liegen im Clinch miteinander. Die Würmer in den Balken ticken, als ob der ganze Kasten eine Bombe wär.

Fortwährend zieht die ausgelatschte Treppe dir die Beine weg. Keine Stufe gleicht der anderen. Biste oben, bimmelts unten - Telefon. Rennste wieder runter, Pustekuchen - Ofen aus. Laß dann noch das Lucie schreien - ach, du lieber Altmarkhimmel! Euch höre ich ja öfter wie die jungen Langobarden rauf und runter galoppieren. Doch wenn man langsam in die Jahre kommt wie ich...

Ich weiß nicht, irgendwas ist nicht geheuer. So eine Ahnung von verschollenen Geschichten liegt in der Luft, graut auf den Korridoren, hinter den sieben Türen bis zum Klo; und mischt sich in der Dunkelheit mit dem Gewisper draußen im Gehölz. Wen hier die eigenen Gespenster reiten, den glotzen sie bald aus dem Spiegel an. So schnell geht das.

Wie schön, der Ofen hat sich heißgebullert. Der Vollmond steht schon überm Scheunendach. Was meinst Du, Claudi, wollen wir zwei Weiber noch ein bißchen um die Ecke gehen? Heute hängen da draußen die Sterne so tief.

Einer muß über die Felder laufen, dem anderen fällt zwischen Traum und Borke ein Gedanke in die Hand. Und was nicht fällt, steigt aus den Tümpeln über Nacht. Jetzt liegen sie wie kleine silberne Fetzen auf dem platten Land. Wortfetzen, die noch nicht gesprochen sind. Die Zeiten haben Ränder. Wo sie sich überschneiden, ist von den Kelten überliefert, müsse man mit Wirbeln rechnen. An solchen Wandeltagen mieden sie die Dunkelheit. Die Reiche der Lebenden und Toten gingen für sie ineinander, über die Brücke des grenzenlosen Augenblicks. Du weißt wie ich, daß wir ihn nur verloren haben.

Schau, dort am Feld, die totgestutzten Weiden. Schwarz und verkrüppelt sehen sie aus, wie dick vermummte Menschenleiber. Ich habe aber das Gefühl, sie ruhen nur und schlagen eines Tages wieder aus. Weißt Du, die Weide wird schon seit Jahrtausenden geliebt. Man sagt, sie sei ein Lebensbaum. Wenn du traurig bist, vertrau ihr deinen Kummer an. Die Weidenruten werden dir zur Antwort flüstern und später, dann zum Korb geflochten, auf dem Marktplatz von dir singen. Womöglich hilft dir einer.

Ich kann es kaum erwarten, bis Lucie sagt: "Ach, Großmama, erzähl..." Das streckt vielleicht die Zeit des Älterwerdens, so wie das Mondlicht heute nacht den Horizont verwischt. Was für ein Glück, so seelenruhig hier mit dir entlangzugehen. Zwei Fußbreit, weiter bist Du nicht entfernt. Ob wir nun scheinbar stehenbleiben oder laufen.

Wäre es der Augenblick, erführen wir bestimmt all die vergessenen Geschichten. So aber tauchen wir nur wieder in das düstere, feuchte Rund des Parks ein. Die schwere Silhouette des Hauses gibt nichts heraus. An den Rändern des Weihers schimmert stumm der Mond. Käm doch so ein Spuk, ein Schatten aus den alten Zeiten, ich hätte ihn so viel zu fragen. Einzig die Ratten im Keller, wo das Kreuzrippengewölbe noch wie ein Thorax atmet, kennen den Geruch und das Knistern der Steine.

Unsere Geschichten bleiben eingesperrt, weil wir sie nicht nach Keltenart von Mund zu Mund bewahren. Das Aufgeschriebene vergißt sich schneller. Manchmal ist es, als ob die Toten etwas sagen wollten. Ein grenzenloser Augenblick - das eine Mal ganz ineinander oder auch in etwas, das wir lieben, aufzugehen, ergäb vielleicht das Schlüsselwort. Ob er sich wiederholen ließe?



 



Das Osterwohler Gutshaus thront am Außenrand des Dorfes in einem düsteren Park am Weiher. Dahinter fangen die Felder und die Weiden an.