Die Garderobe
von Markus Manfred Jung

Es war wohl eine ganz gewöhnliche Garderobe. So eine, wie es sie genau so oder ähnlich noch elfmal in unserem Mietsblock gab, gleich hinter der Eingangstüre. Der Hausgang ein schmaler Schlauch, nur dämmeriges Licht. Die Garderobe an die Wand gedrückt, mit langen Mänteln und Jacken, woraus es immer etwas dumpf nach Feuchtigkeit und Mottenkugeln müffelte. Hüte in verschiedensten Farben und Formen auf den Metallstangen der Ablage droben, Tücher, die von dort herunter hingen, und abgegriffene Gebetbücher auf dem Schuhschaft darunter.

Es war wohl eine ganz gewöhnliche Garderobe, und doch, für mich war sie viel, viel mehr. Besonders im Zwielicht, abends, wenn ich alleine war und auf Vater wartete, da fing sie an zu leben, zu atmen, leise wie das Nashorn im Basler Zoo, das schlief und das ich nicht einmal mit Steinchen hatte wecken können. Die Garderobe lebte. Versteckte Augen beobachteten aus den Mantelkrägen heraus, was ich machte. Immer wisperte irgendwo etwas, kicherte und lockte. Die Tücher tanzten, die Mantelärmel winkten mir, halb verdeckt, zu.

Manchmal stand ich lange in der Küchentüre, wagte kaum zu atmen, schaute verstohlen um den Türpfosten herum, vorsichtig, damit mir die Garderobe ja nichts antun konnte. Wenn sie mich so finster ansah, traute ich mich nie, aufs Klo zu gehen, weil ich Angst hatte, ein Mantelarm packte mich im Vorbeigehen, zöge mich ins muffige

Dunkel hinein und würgte mich. Wenn ich es nicht mehr aushalten konnte, holte ich mir einen Küchenstuhl, stieg darauf und brünzelte in den Schüttstein.

Durch den Spiegel in der Garderobe wurde alles doppelt fremd, immer noch mehr Augen, Arme, Stimmen. Die Figuren aus Vaters unheimlichen Geschichten, die er uns oft abends am Bett erzählte, schlüpften vor meinen Augen in

die Mäntel, Jacken und Tücher hinein, feierten dort ihre Feste, schlugen ihre Schlachten und verwandelten kleine Buben in Zwerge, Riesen, Räuber. Nie in eine Fee, denen war es zu dunkel dort.

Einmal, an so einem Abend, hörte ich Vater nach Hause kommen. Hatte lange schon auf ihn gewartet, wie immer. Schnell sprang ich in die Mäntel hinein, ohne zu denken, wickelte mich hinein, hielt die Luft an und schloß die Augen ganz fest. Als Vater seinen Hut auf die Stange legte, sprang ich heraus, brüllte wie ein Verrückter und hängte mich an seine Beine.

Schrie Vater auch? An der Wand lehnte er, schaute auf mich herab, ganz merkwürdig, mit kohlrabenschwarzen Augen in seinem bleichen Gesicht, eine Hand auf die Brust gepreßt. Ganz leise, fast tonlos ruhig sagte er: "Kind, mach das ja nie mehr, hörst du! Weißt du, mein Herz ist kaputt..

Auf einmal, als er mich an sich zog, spürte ich sein flaches, schnelles Atmen, sein Herz, das schlug wie wild. Ich verstand gar nichts, weinte und weinte und fühlte mich doch so leicht, so geborgen, weil ich gesehen hatte, wie meine Angst fort von mir in seine Augen geflogen war, in die Augen meines starken Vaters. Seither habe ich die Garderobe nie mehr angesehen, und auch sie hat mich in Ruhe gelassen.



 



Als Vater nach Hause kam, sprang ich schnell in die Mäntel hinein, wickelte mich hinein und hielt die Luft an.