Der Hausfriseur
von Louis Holm

Es muß auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise gewesen sein, als auch in unserer Stadt Zehntausende keine Arbeit mehr fanden. Ich bin damals, zu Beginn der 30er Jahre, noch in den Kindergarten gegangen. Aber soviel ist mir deutlich in Erinnerung: Jedesmal, wenn ich mittags heimkam, saß eine von diesen bedauernswerten Gestalten auf der Haustreppe und löffelte einen Teller erbettelter Suppe aus. Auch verging kein Tag, an dem nicht einige von diesen Handwerksburschen, wie sie Mutter nannte, an der Tür klingelten, obwohl der Hausbesitzer am Hoftor ein Schild angebracht hatte, nach dem "Betteln und Hausieren verboten. sei. Aber sie kamen trotzdem, denn die Not war groß. Die meisten wären ja liebend gerne auch der untergeordnetsten Tätigkeit nachgegangen, wenn sie nur eine gefunden hätten. Und sie boten sich sogar an zum Schoren, Teppichklopfen, Holzspalten oder Vorfenstereinhängen. Aber wie oft fiel schon so eine Arbeit an? So gab man ihnen halt meist ein Gesälzbrot oder einen Fünfer, dankbar darüber, daß der Vater immer noch regelmäßig seine 300 Mark im Monat heimbrachte.

Eines Tages stand wieder einer vor der Glastür. So ein dunkler Typ, in dessen pomadisierten Haaren sich bereits die ersten Silberfäden zeigten. In einem blauen Anzug mit Nadelstreifen, der bei seinem Vorbesitzer einmal sehr elegant gewirkt haben mußte, stellte er sich vor: "Joseph Auerbach, Damenfriseurmeister. . Und in Münchner Dialekt, aber mit echt österreichischem Charme erkundigte er sich, ob er nicht der "gnädigen Frau. die Haare richten dürfe oder den "Bubi. - damit meinte er mich, der sich da halb neugierig, halb ängstlich am Rockzipfel der Mutter hielt - etwas verschönern. Er durfte beides. Sogar meine Schwester erhielt gleich einen neuen Pagenschnitt. Am Ende waren beide Teile zufrieden, die Mutter mit ihrer Lockenpracht und ihren sauberen Kindern und der Arbeitslose mit einem rasch verdienten Zweimarkstück. Und weil gerade Vesperzeit war, lud man den tüchtigen Friseur noch zu einer Tasse Malzkaffee. Dabei erzählte unser neuer Figaro von den noblen Herrschaften, die er in der bayerischen Metropole bedient hatte, auch manches spannende Abenteuer aus dem letzten Krieg. Wenn auch nicht alles davon wahr gewesen sein mochte, so verstand er es doch, interessant zu plaudern. Als dann unser Vater heimkehrte, ein strebsamer Obersekretär, aber von unserem Gast mit einer artigen Verbeugung als "Herr Direktor. tituliert, da räumte Auerbach rasch das Feld, jedoch nicht ohne die Zusage, einmal wiederkommen zu dürfen.

Er kam dann regelmäßig. So oft wie damals sind meine Haare nie mehr geschnitten worden. Für die Behandlung von Mama lag eine Brennschere immer griffbereit neben dem Gasherd. Joseph Auerbach war nämlich rasch zu unserem Hausfriseur avanciert. Zuerst erschien er in 14tägigen Abständen. Weil aber Mutters Haupt auch zwischendurch eine Verschönerung guttat, hatte sie nichts dagegen, wenn der Haarkünstler jede Woche einmal nachfragte. Und weil sie sich immer großzügig zeigte und der Friseur neben einer Belohnung auch stets mit einem kleinen Imbiß rechnen konnte, nutzte dieser jede Chance. Und weil sein Kundenkreis offensichtlich klein, der Hunger jedoch immer gleich groß war, kam es gelegentlich auch vor, daß Joseph Auerbach einmal läutete, wenn es nichts zu frisieren gab. Mutter hat ihm dennoch nie die Tür gewiesen. Irgend etwas vom Mittagessen war immer übrig geblieben, ein Rest Sauerkraut, ein Teller Kutteln oder eine Portion Linsen mit Spätzle. Notfalls nahm Auerbach auch mit einer Schale Pfefferminztee und einem Butterbrot vorlieb.

Nach einem halben Jahr zählte er sich zur Familie. Sicherlich hat er in seinen anderen Häusern viel erzählt von der Frau Direktor Holm, wie sie seine Dienste schätzte und ihn regelmäßig zu Tisch bat. Meiner Mutter wurde es jedoch mit der Zeit fast zuviel. Zwar verbot ihr weiches Herz jede Unhöflichkeit auch dann, wenn der Besucher einmal ganz ungeschickt kam, und das oft zweimal in der Woche, wobei er immer dieselben abenteuerlichen Geschichten zum besten gab. Hinzu kam, daß mein Vater die Besuche des Friseurs nicht gerne sah, auch wenn dieser es zumeist verstand, einer Begegnung mit dem "Herrn Direktor. auszuweichen. Kurz, dieses merkwürdige Verhältnis war mit der Zeit zu einer Belastung geworden, von welcher der eine Teil nichts ahnte, weil ihm der andere nicht weh tun wollte.

Die Lösung kam dann anders als gedacht. Eines Nachmittags schaute Mutter gerade zum Küchenfenster hinaus. "Jetzt kommt er scho wieder!. rief sie leicht verzweifelt, denn der Friseur hatte uns in dieser Woche bereits zweimal beehrt. "Heut mache mr net auf, Kender. , beschloß sie spontan. Und dabei blieb es. Joseph Auerbach läutete einmal kurz, nach einer halben Minute noch einmal länger und laut hörbar. Wir blieben standhaft und mucksmäuschenstill. Dann beobachteten wir hinter den Gardinen, wie sich der Besucher wieder entfernte. Er ging aber nicht nach Hause, sondern nur in die nahegelegenen öffentlichen Anlagen, wo er sich auf einer Bank niederließ und eine Zeitung entfaltete. Eine halbe Stunde später kehrte er zurück, um sein Glück nochmals zu versuchen, aber unsere Tür blieb ihm an diesem Tag verschlossen.

Wir erwarteten ihn dann am nächsten Tag, aber er erschien nicht. Auch nicht am Samstag. Dafür kam in der folgenden Woche ein Brief:

"Werte Frau Holm!

Da ich am Donnerstag bei Ihnen mehrmals geläutet habe und mir niemand aufgemacht hat (obwohl sich der Vorhang heftig bewegte!), muß ich annehmen, daß mein Besuch nicht mehr angenehm ist. Ich komme nie wieder. Wünsche Ihnen aber trotzdem viel Glück in Ihrem Leben.

Ihr Joseph Auerbach, Damenfriseurmeister.

Da saßen wir nun mit unserem schlechten Gewissen, und weil der arme Teufel Charakter zeigte, hat es uns auch lange nicht losgelassen. Ja, diese kleine Tragödie hat mich so beschäftigt, daß ich sie bis heute, 60 Jahre später, nicht vergessen habe.

Aber ich kann doch noch einen versöhnlichen Schluß anfügen, ein happy end, wie man heute sagt. Drei Jahre später, als die Wirtschaftskrise überwunden war, traf unsere Mutter den ehemaligen Hausfriseur zufällig auf dem Schloßplatz. Er hatte seinen Groll vergessen, kam freudestrahlend auf sie zu und berichtete, daß er inzwischen in einem bekannten Salon in der Königstraße eine gute Stellung als Meister gefunden hatte. Der Mutter fiel ein Stein vom Herzen, weil Auerbach ihr nicht mehr böse war. Er hat sogar eine Einladung angenommen. Tatsächlich ist er noch einmal zum Kaffee gekommen, mit einem großen Blumenstrauß und in einem neuen Anzug. Es war an einem Mittwochnachmittag. Mama hatte einen ihrer berühmten Rhabarberkuchen gebacken, wirkte gelöst und heiter, und sie sah ganz jung aus in ihrem geblümten Sommerkleid und den frischen Dauerwellen von der Konkurrenz.



 



Eines Tages stand wieder einer vor der Glastür. So ein dunkler Typ, in dessen pomadisierten Haaren sich bereits die ersten Silberfäden zeigten.