Fahrstuhl ins Jenseits
von Reiner Haehling von Lanzenauer

Schläfrig taste ich mich durch den dunklen Gang, suche nach meiner Zimmertür. Da schnellt in der Wand neben mir eine Fahrstuhltür auf. Starr vor Schreck blicke ich in die hell erleuchtete Kabine. Ein Mann liegt auf dem Aufzugboden, den Kopf gegen die Innenwand gelehnt. Glasige, halb geschlossene Augen. In der Stirn ein kreisrundes Loch, auf dem Smokinghemd dünne Blutspritzer. Drei, vier Sekunden - wie von Geisterhand schließt der Lift, gleitet surrend nach oben.

Ich war an diesem Abend die gewundene Alpenstraße hinaufgefahren, bis hinter einer Wegbiegung der fahlgelbe Hotelbau dastand, einsam zwischen hochragenden Felswänden. Davor parkten sternbewehrte Limousinen, lauter Kennzeichenschilder aus Deutschland. Ich hatte ein Zimmer genommen aus Sorge, keine andere Bleibe für die Nacht mehr zu finden. Im Speisesaal prangte eine festliche Tafel, umsäumt von vornehm gekleideten Leuten. Kellner klapperten mit Tellern, entkorkten eilfertig Weinflaschen. Vom Seitentisch her konnte ich, ab und zu meine Zeitungslektüre unterbrechend, die Essensgesellschaft beobachten. Am Tischende thronte ein kräftig gebauter, grau melierter Herr mit energischen Gesichtszügen. Freundlich-herablassend parlierte er nach allen Seiten, artig nickten die Angesprochenen. Es fiel mir auf, daß die allesamt ein recht steifes, gezwungenes Gehabe zeigten. Man spürte, der Mann am oberen Tischende mußte maßgeblichen Einfluß ausüben, im beruflichen, im gesellschaftlichen, im privaten Bereich. Einer jener Machtmenschen, die das Sagen haben. Nach dem Dessert beschied er den Oberkellner, alles gehe auf seine Rechnung. Arm in Arm mit seiner kunstvoll frisierten Begleiterin schritt er aus dem Raum. Nichts hielt nun die übrigen Paare mehr beisammen, mit nickenden Grüßen verliefen sie sich in die oberen Stockwerke.

Nach einer Viertelstunde hatte ich bedächtig mein Glas geleert und den Weg zum Hotelzimmer angetreten. Eben jetzt ist es am Aufzug zu der unheimlichen Begegnung mit der Leiche des grauhaarigen Mächtigen gekommen. Was tun in solcher Lage? Den Portier alarmieren? Die Polizei anrufen? Scherereien und Zeitverlust wird das allemal eintragen. Möglicherweise würde man gar Verdacht hegen, mich in die Stadt schaffen, verhören, einsperren. Ich schaue mich um: kein Zeuge im Flug unterwegs. Auf Zehenspitzen schleiche ich in mein Zimmer, lösche alle Lichter. Angespannt harre ich im Finstern der kommenden Dinge. Da - schnelle Schritte eines einzelnen durchs Treppenhaus, sich bald zum Getrippel vieler verstärkend. Klopfen an Türen, die sich öffnen, hölzern ins Schloß zurückfallen. Wortfetzen, die zum Redeschwall anwachsen. Schrill schreit eine Frauenstimme den Vornamen heraus, schnappendes Schluchzen, besänftigendes Zureden. Kraftwagen rollen mit flatterndem Blaulicht auf den Hof, Carabinieri stiefeln treppauf, ein Notarzt hastet hinterher. Anhaltendes Stimmengesumm in der obersten Etage. Neues Motorengeräusch. Drunten begrüßt der Hotelier mit Verbeugungen den aussteigenden Procuratore. Nur für einen viertelstündigen Augenschein verbleibt der Staatsanwalt am Tatort. Danach wird auf tappenden Schuhsohlen schwere Last über die Stufen heruntergetragen. Vor dem Hause schieben die Träger den blechernen

Transportsarg in ein lieferwagenähnliches Gefährt. Endlich Stille. Ich öffne das Fenster. Höher noch scheinen sich die zerklüfteten Gebirgshänge in den nebligen Nachthimmel zu recken. Lauter als zuvor tost der silbrige Sturzbach neben der Fahrstraße zu Tal.

Bei meiner Abreise am nächsten Morgen warten hinter der Rezeption zwei Polizeigesichter in Zivil. Gewissenhaft notieren sie alle Daten meines Personalausweises, wollen wissen, was ich heute nacht an Ungewöhnlichem bemerkt hätte. Überhaupt nichts. Mein fester Schlaf. Nach Hause zurückgekehrt, finde ich in der Zeitung eine trauerumbalkte Anzeige: Direktor Sch., Senator ehrenhalber, Träger der Landesverdienstmedaille, sei auf einer Reise durch die Dolomiten verschieden. Plötzlich und unerwartet. Was diese Floskel wohl verbirgt - Verbrechen? Selbstmord? Fahrlässige Tötung? Ich habe es nie in Erfahrung bringen können.


 



Ein Mann liegt auf dem Aufzugboden, den Kopf gegen die Innenwand gelehnt. In der Stirn ein kreisrundes Loch.