Johann Peter Hebel
Zum 200. Geburtstag des großen Kalenderschreibers
von Herbert Wiedemann

Der langjährige Kalendermann des Lahrer Hinkenden Boten Herbert Wiedemann schrieb 1960 über seinen berühmten "Vorgänger":
Der "Lahrer Hinkende Bote" hält nicht viel von Jubiläumsartikeln, sonderlich aus dem Gebiet der Literaturgeschichte. Wenn man da anfängt, weiß man nämlich bald nicht mehr, wo man aufhören soll. Schließlich ist der "Lahrer Hinkende Bote" ein Volkskalender und kein Literaturkalender. Der geschätzte Leser ist dem Kalendermann insgeheim dafür dankbar, daß er lieber noch ein flottes Stücklein erzählt, statt in die Abgründe dieser oder jener schriftstellerischen Existenz hinabzusteigen. Indessen: die Ausnahme bestätigt die Regel.
Es gibt im Jahr 1960 einen Geburtstag, den der "Lahrer Hinkende Bote" schlechthin nicht vergessen darf: am 10. Mai 1760, also vor 200 Jahren, wurde in Basel Johann Peter Hebel geboren. Dieses Mannes wird man im Wonnemond in ausführlichen Betrachtungen gedenken. Man wird seine schon von Goethe bewunderten "Alemannischen Gedichte" würdigen, man wird ihn als Theologen und als Schulmann vorführen, man wird den Situationen seines Lebens nachspüren und mit Eifersucht darüber wachen, daß kein Gasthaus vergessen wird, wo er jemals in der oberrheinischen Landschaft einen Schoppen bestellt hat. In unserer auf Tempo ausgerichteten Zeit, wo viele Menschen telefonieren, statt zu leben, wird man schließlich den Briefschreiber Hebel mit einem ehrfürchtigen Staunen bewundern, weil sich hier eine Persönlichkeit enthüllt - und ein fühlendes Herz.
Der "Lahrer Hinkende Bote" hingegen hat dem Kalenderschreiber Hebel seine Achtung, seinen Respekt, seine Liebe und Verehrung zu erweisen. Im Jahre 1802 wurde eine "Kommission" bestellt, um den "Kurfürstlich badisch gnädigst privilegierten Landkalender für die badi-sche Markgrafschaft lutherischen Anteils" einigermaßen aus seiner am Verkaufsrückgang erkennbaren privilegierten Langeweile zu erlösen. Weil er die einleuchtendsten Vorschläge machte, hat man ihm die Redaktion übertragen, worüber er zunächst nicht einmal sonderlich entzückt war. "Das Consistorium schreibt vor, und viele Küche verderben den Brei" - das war seine erste Äußerung. Schließlich überließ man ihm die alleinige Verantwortung, und es erschien.
"Der Rheinländische Hausfreund oder Neuer Kalender auf das Schaltjahr 1808, mit lehrreichen Nachrichten und lustigen Erzählungen".
Was Hebel in den nachfolgenden Jahren aus seinem "Rheinländischen Hausfreund" gemacht hat, ist der Stolz und das Vorbild aller Kalenderschreiber, seine Kalendergeschichten, im "Schatzkästlein" zusammengefaßt, zählen zum unverlierbaren Besitztum der deutschen Nation. Hebel selbst hat nie einen Hehl daraus gemacht, daß er sich vor allem vom "Basler Hinkenden Boten" stark beeinflussen ließ, der - von Geiger in Lahr vertrieben - auch für den "Lahrer Hinkenden Boten" das Vorbild abgab. Seine Stoffe fand er da und dort, etwa im "Vade Mecum für lustige Leute", das in zehn Bändchen zwischen 1762 - 1782 in Berlin erschienen war. Überkommenes verschmolz sich mit der eigenen Kunst des Fabulierens.
Der "Lahrer Hinkende Bote" hat gerade in den letzten Jahren immer wieder auf Hebels Kalendergeschichten zurückgegriffen, weil die Begegnung mit dem Wort des Meisters beim geschätzten Leser das Ohr und den Sinn schärft für das Bemühen der Zeitgenossen um die volkstümliche und anspruchsvolle Kalendergeschichte. Und wenn wir dabei auch manchmal abfahren mögen, so wäre Hebel der Letzte, der sich den Wandlungen der Zeit verschließen und es beim Lob des Vergänglichen bewenden lassen wollte. Der Kalendermann hätschelt zwar gerne mit mancherlei Hinweisen und Vergleichen die Vergangenheit, aber er schwimmt mit im Strom der Zeit, seiner Zeit, unserer Zeit!
Bei aller Mühe und aller Anerkennung, die Hebel der "Rheinländische Hausfreund" von Anfang an eintrug, erlebte er hinreichend Ärger und Verdruß mit dem Kalender-Consistorium, das gegen diesen oder jenen Beitrag aus dem Hintergrund Einwände erhob und den Kalendermann fortgesetzt zu rechtfertigenden Erklärungen nötigte, von dem ewigen Honorarzank ganz zu schweigen. Schon nach acht Jahren zog sich Hebel zurück.
Der "Lahrer Hinkende Bote" hat indessen auch der Tatsache zu gedenken, daß Hebels "Rheinländischer Hausfreund" schon 1813 vorübergehend an den Verlag Geiger-Schauenburg vergeben wurde, zwei gute Rösser standen im gleichen Stall - die Briefe Hebels an den Drucker Geiger entbehren nicht jener Ironie, deren sich bis zum heutigen Tage die Autoren im Umgang mit ihren Verlegern zu bedienen pflegen. In den sechziger Jahren ging der "Rheinländische Hausfreund" ein. Schauenburg verlegte ihn erneut von 1882 bis zum zweiten Weltkrieg - das war dann aber eigentlich nur noch ein regionales Anhängsel des "Lahrer Hinkenden Boten" - ach, es ist ohne Triumph gesagt!
Der "Rheinländische Hausfreund" zu Lebzeiten Hebels: ihm gilt unsere ungeteilte Bewunderung. Haben sich die Kalendermacher zu allen Tagen immer das Beste gegenseitig ohne Scheu und Hemmung abgeguckt, so hat Hebel, der da auch mithielt, in Stil und Form in seiner Kalendergeschichte die eigentliche Kalenderaussage geprägt. Diesem Vermächtnis fühlt sich der "Lahrer Hinkende Bote" zutiefst verpflichtet - die "Weltbegebenheiten" und die "Standrede" betrachtete er mehr als seine eigene historische Domäne.
Der "Hausfreund", das war unverkennbar Hebel selbst: wie er da fleißig am Rheinstrom auf und ab geht, "schaut zu manchem Fenster hinein, man sieht ihn nicht, sitzt in manchem Wirtshaus, man kennt ihn nicht, geht mit manchem braven Mann einen Sabbaterweg, oder zwei, wie es trifft, und läßt nicht merken, daß er's ist". Der "Lahrer Hinkende Bote" dagegen ist der Volksmann aus dem Märchen, das alle Jahre wiederkehrt. Auch er geht fleißig am Rheinstrom auf und ab und schaut zu manchem Fenster hinein. Aber er setzt sich im "Goldenen Löwen" alljährlich an den Tisch mit dem Bachhuber und dem Schmiedxaver. Man sieht ihn sitzen im Wirtshaus und man kennt ihn. Man weiß, wer er ist! Dies ist ein feiner, aber empfindsamer Unterschied.
Das andere wäre dies: der "Rheinländische Hausfreund" war staatlich "privilegiert" und von einem Redaktions-Consistorium abhängig zu Hebels unermüdlichem Verdruß. Der "Lahrer Hinkende Bote" bewegte sich immer auf der freien Wildbahn. Er hatte verlegerisch keine Förderer, aber auch keine Dreinreder, er wollte und er mußte verkauft werden. Auf diese Weise hat er die Zeiten überdauert.
Der "Lahrer Hinkende Bote" steht aber nicht an, dem "Rheinländischen Hausfreund" der Hebelzeit, dem Schauenburgischen "Haus"-Freund und jüngeren Bruder den besten Jahrgang vom Wolfenweiler Batzenberg zu widmen, samt dem Schanzbuck und dazu eitel Glanz und Gloria und Kalendertrompeten für Johann Peter Hebel, den großen Kalendermacher, der in Basel und zu Hausen im Wiesental daheim war, nicht anders als in Straßburg, in Freiburg, in Lörrach und in Karlsruhe.
Laßt uns daran denken, daß er seine Gedichte zwar in alemannischer Mundart geschrieben hat, seine Kalendergeschichten aber hochdeutsch. Auch der "Lahrer Hinkende Bote", so tolpatschig er manchmal daherkommen mag, wendet sich deshalb nicht allein an die heimische Landschaft, sondern an die ganze deutsche Sprachgemeinschaft.
Der Hinkende hat ihm zu mancherlei Zeitläuften einen Kranz niedergelegt auf dem Grab in Schwetzingen. Heute erinnert er an das Knäblein, das 1760 in Basel zur Welt kam, einfacher Leute Kind - ein Kind des Volkes ist Johann Peter Hebel geblieben, sein Leben lang.


 


 


Johann Peter Hebel, nach dem Stich von Friedrich Müller