Des Kaisers neue Kleider", "Die Prinzessin auf der Erbse", "Die kleine Seejungfrau", "Der standhafte Zinnsoldat" - Hans Christian Andersens philosophische Märchen für Erwachsene wurden in alle Sprachen der Erde übersetzt und sind weiter verbreitet als die Werke von Shakespeare und Goethe. Vor 125 Jahren, am 4. August 1875, starb Andersen in Kopenhagen, der Stadt der Seejungfrau.
"Kurz, klar und reich" - mit diesem Konzept schuf Andersen in einem bewußt schlichten Stil eine Märchenwelt, die sich völlig von den in traditionellem Stil niedergeschriebenen Märchen der Brüder Grimm und den oft artifiziellen Kunstmärchen der Romantik unterschied. An die Stelle des primitiv-magischen Weltbildes traditioneller Märchen setzte Andersen eine pantheistische Sicht, die "die Gesetze der Natur als die Gedanken der Gottheit selbst und die bloße Wirklichkeit als ein Wunder" erscheinen lassen sollte. Da diese Märchen jedoch mit dem Untertitel "erzählt für Kinder" erschienen, landeten sie fast ausschließlich in Kinderzimmern, obwohl Andersen sie für Erwachsene geschrieben hatte in einem Stil, der auch Kindern verständlich sein sollte: "Ich greife eine Idee auf, die für Ältere gedacht ist - und erzähle sie dann den Kleinen, während ich daran denke, daß Vater und Mutter oft zuhören, und ihnen muß man etwas für den Verstand geben" - so beschrieb Andersen die Entstehung der meisten seiner Märchen.
Ob die hoffnungslose Liebe der kleinen Seejungfrau, die sich vergeblich an eine "Hexe" wendet, um ihren Traumprinzen zu bekommen, ob die Überempfindlichkeit der Prinzessin auf der Erbse, ob Todeserfahrungen in der "Geschichte einer Mutter", ob die Versorgungsehen-Satire von "Däumelinchen" - die "Idee", die Andersen jedem Märchen zugrundelegt, überschreitet den Erfahrungs- und Verständnishorizont eines Kindes. Doch die Bilder und den Handlungsablauf versteht jedes Kind: "Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzchen" erfriert in einer Silvesternacht im Angesicht üppiger Schaufensterauslagen und träumt im Sterben von seiner Großmutter: "Und die Schwefelhölzchen leuchteten mit solchem Glanz, daß es heller war als der lichte Tag. Die Großmutter war früher nie so schön, so groß gewesen. Sie nahm das kleine Mädchen auf ihre Arme, und beide flogen in Glanz und Freude hoch über die Erde, so unendlich hoch und weit. Und dort oben war keine Kälte, kein Hunger, keine Angst, keine Not - sie waren bei Gott.
Aber im Winkel, an die Mauer gelehnt, saß in der
kalten Morgenstunde das arme Mädchen mit roten Backen und mit lächelndem
Mund - erfroren am letzten Abend des alten Jahres. Die Neujahrssonne ging
auf über der kleinen Toten. Starr saß sie dort mit den Schwefelhölzchen, von denen ein Bund abgebrannt war."