Schlangen in Mythos und Mär
Goldene Ähren und Asklepios-Stätten
Von Hans Werner Kraft

Schlangen - Boten der Finsternis, Verkörperung des Bösen für viele Menschen, für andere Glücksbringer und Zeichen des Heils. Vom mystischen Dunkel des Aberglaubens bei vielen Völkern umgeben, spannt sich aus grauer Vorzeit über die Antike bis in unsere Tage ein weiter Bogen von Sagen und Legenden, Fabeln und Märchen über die zumeist recht farbenprächtigen, züngelnden Reptilien.

In der Schöpfungsgeschichte schon, im ersten Buch Mose, war es die Schlange, "& listiger denn alle Tiere auf dem Felde", die Eva veranlaßte, die süßen Früchte am Baum der Erkenntnis zu kosten. Mose errichtete gar das eherne Schlangenmal als Symbol göttlicher Hilfe gegen die "feurigen Schlangen", die das verdrossene Volk Israel in karger Wüste durch giftige Bisse quälten.

Die alten Ägypter ehrten Schlangen als Beschützer ihrer Felder, das Bildnis der giftigen Uräusschlange galt als Wahrzeichen königlicher Macht über Leben und Tod und fehlte an keinem Pharao-nen-Diadem. Kleopatra schließlich, ein halbes Jahrhundert vor Christi Geburt Regentin im Lande am Nil, setzte ihrem Leben durch den Biß der Brillenschlange ein schnelles Ende, hatte doch der Einsatz all ihrer Reize - erfolgreich erprobt bei Caesar und Antonius - gegenüber Octavian nicht zum gewünschten Erfolg geführt.

Von Anbeginn der Menschheitsgeschichte, in fernen Ländern bis auf den heutigen Tag, tragen Schlangenanbetung und Schlangendienste, Schlangenkulte und Verehrung der Schlangen bei zum abergläubischen Nimbus, der die züngelnden Reptilien umgibt. Indes, nicht nur die großen Schlangen, die giftigen Vipern feucht-warmer Regionen, auch die zumeist recht harmlosen Nattern und Ottern unseres Landes hat der Glaube des Volkes mit einem dichten Kranz von Märchen und Mythen umgeben. Schritt doch vorzeiten ein armer Landmann durch seine dürftigen Felder. Dünn stand der Hafer, der Weizen kümmerte. Am Haselstrauch aber stieß der Bauer auf die Schlangenkönigin, die sich aufrichtete und ihn freundlich bat, sie zu den Wichteln am Fuß der alten Eiche zu tragen. "Die Zwerge", so erklärte die Natter, "sollen meine goldene Krone richten!" Der furchtsame Bauer trug die Schlange um seinen Stock geschlungen zum Eichbaum, ließ sie behutsam in Moos und Farn gleiten und ging seines Weges. Alsbald aber sah er, daß die Spitze seines Stockes gülden flammte. Erschrocken schleuderte er den Stecken in sein Haferfeld. Wenig später aber, zur Erntezeit, reiften genau an jener Stelle zwei mächtige Ähren mit riesigen goldenen Körnern. Aus dem puren Golde ließ sich der Landmann einen Schlangenreif, einen Ring mit leuchtendem Schlangenkopf, schmieden, den er immer am Finger trug. Fortan gedieh sein Hof, Wohlstand und Glück kehrten ein für alle Zeiten.

Von der einst in unserem Land recht häufigen Ringelnatter, die auch heute in feuchten Biotopen unserer Heimat noch anzutreffen ist, erzählt dieses Märchen. Ihre orangefarbene Zeichnung an Kopf und Nacken wurde in alter Zeit als "Krone" gedeutet, die Ringelnatter als "Schlangenkönigin" bezeichnet. Bei den Sorben des Spreewaldes sowie den Slaven des Ostens und Südostens ver-körperte die Ringelnatter den guten Geist des Anwesens. Sie wohnte im warmen Stall und war dort wohl geduldet. Krankheit und Feuersbrunst - so meinte man - hielt sie fern vom Gehöft, bösen Geistern und schlimmen Hexen verwehrte sie den Zutritt, den Menschen aber brachte sie Glück.

Fanden sich aber ihre daumendicken Eier im warmen Dung - von denen wohl kaum einer wußte, daß sie der Natter entstammten - dann glaubten die Leute an Hahneneier, dotterlos, gelegt vom pech-schwarzen Hahn. Aus einem solchen Ei schlüpft nach langer Zeit ein garstiger Basilisk, hahnengleich, schlangenschwänzig, unglückbringend, schwarz und häßlich, sich flüchtend in die fin-sterste Kellerecke. Stellte man jedoch ein Spieglein auf, in dem der Unhold sich selbst erblickte in all seiner Häßlichkeit, dann starb er auf der Stelle!

Ein dunkles, kreuzähnliches Band läuft über den Rücken der Kreuzotter, der einzigen Giftschlange hierzulande, die in trockenen Heiden sowie an Waldrändern unserer Heimat auch heutigen Tages glücklicherweise noch ihre Refugien findet. In vielen Farbschlägen schillert die schöne Schlange, graublau, grün bis oliv, gelb auch und rotbraun bis zu tiefem Schwarz. "Höllennatter" und "Teufelsotter" nannten die Leute einst die schwarze und die rote Farbvariante. Abergläubisch, fanatisch wurde sie verfolgt - die Schlange mit dem Kreuzeszeichen, giftig züngelnd, sie mußte doch Unglück bringen! Fang- und Kopfprämien wurden gezahlt, das schöne Reptil an den Rand des Aussterbens gebracht.

Außergewöhnlich schlank und geschmeidig, gelbbraun bis oliv, an die zwei Meter lang, so zeigt sich die Äskulapnatter, die im südlichen Deutschland seit langem Heimstatt gefunden hat. Eine Schlange mit langer Geschichte. Asklepios (lat. Äskulapius), so heißt es in griechischer Mythologie, entsproß einem Schäfer-stündchen des Lichtgottes Apoll mit der Nymphe Koronis. Artemis aber, die ewig jungfräuliche, die Schwester des Apoll, beäugte voller Argwohn den leichtfertigen Wandel der Gespielin des Bruders und schaffte es schließlich, sie mitsamt ihrem Säugling dem Feuertode zu überantworten. In letzter Minute gelang es Apoll, Asklepios, seinen Sohn, aus gierig züngelnden Flammen zu retten, er vertraute ihn dem Centauren Cheiron zur Erziehung an. Der wiederum machte aus seinem Zögling im Laufe der Jahre ein Genie, erfolgreich in allen Fragen der Heilkunst und fähig sogar, Verstorbene auf viele Jahrzehnte ins Leben zurückzurufen.

Das aber war Hades, der finsteren Gottheit der Unterwelt, dem Bruder des Zeus, keineswegs recht. Er nämlich befürchtete durch die Kunst des Asklepios alsbaldige Unterbelegung seiner auf ständigen Zugang eingerichteten Räumlichkeiten und nötigte Zeus zum Handeln. Der Göttervater zeigte Verständnis für des Bruders drückende Sorgen und tötete - allmächtig, wie er nun einmal war - Asklepios durch den grellroten Strahl eines Blitzes. Nach seinem Tode erst wurde Asklepios zur Gottheit der Heilkunst, sein Kult verbreitete sich rasch über ganz Hellas und später auch bis nach Rom.

In der Nähe heilkräftig sprudelnder warmer Quellen bauten die Griechen Asklepios-Stätten und verbanden diese alsbald mit Bade- und "Kur"-Einrichtungen. Die geschmeidige Natter aber, die Äskulapschlange, fühlte sich im warmen Klima in der Nähe der Tempel genauso wohl wie die nach Heilung trachtenden Menschen. Sie wurde alsbald Symbol der kultischen Stätten und fand in jedem Tempel Heimstatt. Anno 293 wütete die Pest in Rom, ein eilends gebauter Asklepios-(Äskulapius-)Tempel und viele ebenso eilig von den Griechen angeforderte Äskulapnat-tern vermochten die Seuche jedoch recht schnell zu besiegen.

Viele Künstler der Antike stellten Asklepios, Äskulapius, dar in Marmor und Stein, auf knorrigen Stab gestützt und stets mit seinem Symbol, der züngelnden Schlange. Aus dem von der Äskulapnat-ter umschlungenen Stecken wurde in späterer Zeit das Wahrzeichen unserer Ärzteschaft.

Die Lebenserwartung unserer heimischen Schlangen beträgt beinahe zehn Jahre, doch dezimieren Storch und Reiher, Tag- und Nachtgreife die Bestände. Fuchs und Marder stellen ihnen nach, auch Igeln und Wildschweinen fallen viele zum Opfer. Ihr größter Feind jedoch ist immer noch der Mensch. Unsere Einstellung zu den Schlangen ist zumeist irrational, von unbegründeter Furcht und alter Überlieferung getrübt. Schlangen aber sind faszinierende Lebewesen, sie und ihre Lebensräume sind auf unseren Schutz angewiesen.



 



Nicht nur die großen Schlangen und giftigen Vipern spielen in Märchen und Mythen der Völker eine Rolle, sondern auch die harmlose Ringelnatter wird in manchen Gegenden als "Schlangenkönigin" bezeichnet.


Ein dunkles, kreuzähnliches Band läuft über den Rücken der Kreuzotter, der einzigen Giftschlange hierzulande.


Ein Kreuzotternpaar in Hochzeitsstimmung.


Auf dem Bild aus einem alten Tierbuch einträchtig vereint: Kreuzotter (hinten), Ringelnatter (Mitte) und Äskulapnatter (vorne).


Eine sich häutende Ringelnatter.


Aus dem daumendicken Eiern der Ringelnatter schlüpfen die Jungen aus.