Edle Stauden
Das Maiglöckchen
von Rudolf Schiffer

Für viele Menschen ist der Mai der schönste Monat des Jahres. Nach dem langen Winter werden wir wieder mit frischem Grün und einer Blütenpracht ohne Ende verwöhnt. Die seidige Luft ist erfüllt von Blütenduft, der bei den Kirschbäumen beginnt und im einzigartigen Fliederduft seinen Höhepunkt erreicht. Das Symbol des Wonnemonats aber ist eine kleine, feine, heißgeliebte Blume, die im Wald ein eher bescheidenes Dasein fristet, das Maiglöckchen. Sein botanischer Name ist Convalleria. Es gehört zur großen Familie der

Liliengewächse, Liliaceae. Seine Gattung besteht nur aus der einzigen Art Convalleria majalis.

Dieser Name entstand, weil Botaniker des 16. Jahrhunderts wie Brunsfeld und Brunschwig das Maiglöckchen schlechthin für die "Maililie der Täler" hielten, womit sie wegen seiner weiten Verbreitung in den Wäldern der Ebenen und Täler nicht einmal unrecht hatten. Bei mittelalterlichen Malern galt das Maiglöckchen als Marienblume. Am bekanntesten ist wohl Albrecht Dürers Bild "Maria mit dem Zeisig und dem Maiglöckchen".

Die Heimat des Maiglöckchens sind die lichten Laubwälder von Europa bis West-asien. Im Buchenwald fühlt es sich besonders wohl, denn es bevorzugt, gleich den Rotbuchen, einen leicht kalkhaltigen Boden und viel Feuchtigkeit. Weil unsere Wälder heute unter zunehmender Versauerung der Böden leiden, sterben nicht nur die Bäume, sondern auch ihr typischer Unterwuchs wie Buschwindröschen und Maiglöckchen. Wo es früher nach den Buschwindröschen und Himmelsschlüsseln den ganzen Waldboden bedeckte, ist das Maiglöckchen heute zur Seltenheit ge-worden. In den deutschen Kalkalpen, vom Werdenfelser bis zum Berchtesgadener Land, findet man es bis in 1000 Meter Höhe noch relativ häufig.

Als ausdauernde Pflanze besitzt das Maiglöckchen ein kriechendes Rhizom als Wurzelstock, der schon um 1900 unter Naturschutz gestellt wurde. Weil es sich hauptsächlich durch seine Ausläufer vermehrt, nahm man den Schutz der oberirdischen Teile nicht so genau, solange es noch viele Maiglöckchen gab. Heute ist jedoch die ganze Pflanze streng geschützt!

Neben je zwei langen, schmalen, lanzettähnlichen Blättern entwickelt sie eine blattlose Blütentraube auf langem Stiel mit zahlreichen, überhängenden, reinweißen, glockigen Einzelblüten, die angenehm duften. Aus ihnen entstehen im Laufe des Sommers rote, kugelrunde, dreifächrige Beeren mit weißlichen Samen. Alle Teile des Maiglöckchens sind giftig durch Glucozide. Wegen ihrer digitalisähnlichen Wirkung (Fingerhut) werden sie in der Medizin als Heilmittel bei Herzkrankheiten verwendet.

Als Kinder fieberten wir dem Pflücken der Maiglöckchen in den Kriegs- und Nachkriegsjahren von 1939 bis 1950 geradezu entgegen. Damals gab es sie in den großen Wäldern meiner rheinischen Heimat im Raum Bergheim-Jülich-Düren so zahlreich, daß es keiner Behörde eingefallen wäre, den Familien und Kindern das Pflücken zu verbieten. Auf den Ämtern gab es sogar offiziell Pflückscheine, aber kein Förster oder Feldhüter kontrollierte ihr Vorhan-

densein. Erwachsene und Kinder gingen beim Pflücken der Maiglöckchen so sorgfältig vor, wie sie es seit alten Zeiten von Generation zu Generation gelernt hatten, denn man wollte die schönen Blumen, mit denen sich viele ein Zubrot verdienten, auch für später erhalten. Man greift den langen Blütenstiel ganz tief mit Daumen und Zeigefinger und zieht ihn mit leichtem Ruck aus der Blattverankerung. So bleibt die übrige Pflanze mit Blattstiel, Blättern und Wurzelstock unbeschädigt.

Wir besaßen eine solche Geschicklichkeit, daß jeder an einem Tag vier bis sechs dicke Sträuße pflücken konnte, die man später in kleinere Sträuße aufteilte und verkaufte. Sie brachten einen Neben-

verdienst oder für uns Kinder ein gutes Taschengeld ein. Zuhause stellten wir die Sträuße gleich in Wasser, bevor sie an Blumengeschäfte oder auf direktem Weg verkauft wurden. Gegen Ende des Krie-ges tauschte man Maiglöckchen sogar gegen Nahrungsmittel ein. Das verstärkte sich in den ersten Nachkriegsjahren, als die Not am größten war. Da gab es Maiglöckchen auch auf dem schwarzen Markt. Wir Kinder stellten uns jedoch an der vielbefahrenen Landstraße Köln-Aachen auf und hielten die Sträuße den Autos, meist Militärfahrzeugen, entgegen. Die Besatzungstruppen der Alliierten waren ganz versessen auf die wohlriechenden Blumen, die ihnen von ihren Heimatländern meist unbekannt waren. Für einen kleinen Strauß gaben sie eine ganze Packung Ami-Zigaretten, damals eine harte Währung beim Tausch für andere Güter.

Erst das beginnende Wirtschaftswunder setzte dem Maiglöckchenpflücken ein Ende. Das Verschwinden großer Waldflächen zu Gunsten neuer Straßen, Autobahnen, Wohn- und Industriesiedlungen und des Braunkohletagebaus sowie das Waldsterben ließen die Blumen immer seltener werden. Wenn aber der Wonnemonat naht, sehe ich in Gedanken wieder die großen Buchenwälder meiner Kindheit mit ihren endlosen Teppichen von Maiglöckchen und spüre ihren Duft, als wäre ich noch einmal mittendrin.

Heute werden die Maiglöckchen zwar nicht mehr in Massen im Wald gepflückt, haben aber an Beliebtheit kaum eingebüßt. Schon früh wurden sie Zucht- und Treibpflanzen der Gärtner. Ihr Ziel ist es, Maiglöckchen schon zu Weihnachten und Neujahr auf den Markt zu bringen. Viele Millionen vorgetriebener Maiglöckchenkeime und Blütenstände gehen jährlich ins Ausland, besonders in die nordischen Länder und nach Amerika. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg lagen die Anbaugebiete

in West- und Norddeutschland, in Sachsen, Mecklenburg und Pommern.

Die Niederlande zogen nach. Die Treibkeime werden bei der Zucht in drei Güteklassen eingeteilt. Alle müssen Blütenkeime mit langer Bewurzelung haben. Für die Treiberei zu Weihnachten ver-wendet man Eiskeime aus Kühlräumen. Ende November beginnt man mit der Treiberei in einem warmen Wasserbad. Danach werden die Keime in Sägespäne, Torfmull, Moos oder sandige Erde in Kistchen, Container und Töpfe gepflanzt. Die Bodenwärme des Treibbeetes muß 30 bis 32 Grad Celsius, die Lufttemperatur 28 bis 30 Grad betragen. Die Treibgefäße dunkelt man ab. Ist die Stiellänge erreicht und beginnen sich die untersten Glöckchen der Blütentrauben zu öffnen, stellt man die Maiglöckchen ans Licht und härtet sie durch niedrigere Temperaturen allmählich ab. Kurz vor

dem Verkauf werden die Blumen kühl gehalten.

Für die Treiberei nach Weihnachten werden keine Eiskeime mehr benötigt, son-dern normale, unbehandelte Keime. Im Topf oder Container vorkultivierte Maiglöckchen haben für die Kunden alle Vorteile dauerhafter Pflanzen. Man kann sie als Stauden im Garten auspflanzen, wo sie unter Bäumen und Büschen bald einen Teppich wie im Wald bilden und in jedem Mai ihren wunderbaren Blütenduft verströmen. Blumenkeime blühen bereits in der ersten Saison, normale Pflanzenkeime nach einem Jahr. In der Floristik finden die Maiglöckchen vieler-lei Verwendung als Schnittblumen, Topfpflanzen oder in bunten Frühlingsschalen, in denen sie mit ihrer besonderen Duftnote hervortreten. Bei aller gärtnerischen Zucht geht jedoch nichts über das im Wald wildwachsende Maiglöckchen, dessen Frische, Schönheit und Duft unübertroffen bleiben.



 



Das wildwachsende Maiglöckchen ist seltener geworden und gehört heute zu den geschützten Pflanzen. Es übertrifft an Frische, Schönheit und Duft alle gärtnerischen Züchtungen.


Maiglöckchen in einem Naturschutzgebiet in Georgien.