Das seltsame Leben des Vetters Liborius
von Theodor Weißenborn

Eine der gütigsten und zugleich geheimnisvollsten Gestalten meiner Kindheit ist der Vetter Liborius gewesen, ein Maler, der etwa in meinem siebenten Lebensjahr in mein Heimatdorf kam und sich dort niederließ. - Ich sehe mich an einem Sommernachmittag in der kühlen Wohnstube auf einem Schemel sitzen, mitten in der Stube steht ein großer, hagerer, etwa 40jähriger Mann mit einem bleichen Gesicht, einem schwarzen Spitzbart und langen Armen, und der sagt zu meinem Vater: Das Bild ist verkauft, Vetter Hanndietrich! 50 Taler hatte ich gefordert, und 100 habe ich bekommen. Es gibt doch noch Kunstfreunde in der Stadt! Und in erregtem, begeistertem Ton fährt er fort: Eines Tages will ich noch ein Bild malen, Nachbar, das soll so schön sein wie - wie zerstampfte Perlen!.

Mein Vater faßt ihn daraufhin begütigend am Arm und sagt:  Schon gut, schon gut, Vetter Liborius; geht nur nach Hause! Man sollte meinen, Ihr sprächet im Fieber.

Da verabschiedet sich der Mann. Doch während er an mir vorbei durch die Stube geht, fährt er mir noch mit der Hand über den Kopf und sagt: Dein Vater hat mir erzählt, daß du Maler werden willst, Junge. Du mußt mich einmal besuchen kommen und mir deine Bilder zeigen.

Das ist für mich der Anfang zu einer seltsamen Freundschaft gewesen. - Es war am Tag darauf, als ich früh am Morgen aus dem Haus trat und langsam, am Brückengraben entlang und an der Kirche vorbei, hinaufging zum Oberdorf. Unter dem Arm trug ich eine Rolle aus Packpapier, in das die Mutter meine Bilder eingewickelt hatte. Die Pferdegasse lag still im warmen Sonnenschein, noch war kein Mensch zu sehen, und die Vögel sangen im Efeu an der Mauer des Schloßgartens. Und da war endlich die alte, geschnitzte Tür des Gesindehauses, des älteren, zur Straße hin gelegenen Schloßflügels, in dem der Vetter Liborius ein Zimmer gemietet hatte. Ich schaute mich noch einmal um, sah die Straße hinauf und hinab und wollte eben an der Schelle ziehen, als sich die Tür öffnete und der kleine Otto, das Kind des in demselben Hause wohnenden Försters, die Steinstufe herabsprang und mir zurief: . Willst du zum Onkel Liborius? Da paß ja auf! Der Onkel Liborius ist ein Hirsch, ein großes wildes Tier!.

Ehe ich noch etwas erwidern konnte, wurde über mir im ersten Stockwerk ein

Fenster geöffnet, der Kopf des Malers erschien über den Blumenkästen, und der Vetter Liborius rief mir zu: . Komm nur herauf, du Wurm!. Und dabei sah er mich so zwingend an, daß ich folgsam durch die Tür ging und in dem finsteren Flur die breite, hölzerne Treppe hinaufstieg. Oben stand ich einen Augenblick mit klopfendem Herzen vor der Stubentür, bis mir geöffnet wurde. Der Vetter Liborius war ganz freundlich zu mir. Ich durfte mich in einen alten, gepolsterten Sessel setzen und hatte nun Gelegenheit, den seltsamen Mann zu beobachten, wie er so vor seinem Arbeitstisch stand und sich über meine Zeichnungen beugte. Das schwarze, wirre Haar fiel ihm tief über die weiße Stirn, der weiche Mund war ein wenig geöffnet, die dunklen, brennenden Augen hatte er wie immer sehnsüchtig geweitet. Er warf auf jedes der Bilder einen jähen, fast wilden Blick, der in Sekundenschnelle eine Fülle von Einzelheiten erfaßte, doch mußten ihm meine Bilder wohl gefallen; denn er sah mich zwischendurch ein paarmal lächelnd an und sagte endlich: . Komm, Junge! Jetzt sollst du auch m e i n e Bilder sehen!.

Und damit führte er mich ringsum an den Wänden der Stube entlang, wo, oft zu dritt übereinander, eine Menge von Ölbildern hingen. Ich schaute ganz ehrfürchtig zu ihnen auf; so viel Herrlichkeit auf einmal hatte ich noch nie erblickt. Da waren ganz helle Bilder, in warmen gelben und rötlichen Farben. Da war das weite Land im Sommer, wenn das Sonnenlicht über den Feldern zittert und wogt und wenn der Himmel blau und klar wie Glas über den Zäunen der Gärten liegt, da war die Sonne, die in den Scheiben glüht, und der Wald, der lichte, grüne, der in den Juliwochen wie eine Orgel auf den Bergen steht, und alles war so hell und glücklich, so stark und unmittelbar, daß man glauben mochte, die Vögel über den Feldern singen zu hören.

Aber es waren auch andere Bilder da: dunkle, graue, ohne Licht und Sonne, nur voller Schmerz und Angst. Da war eine finstere Schafweide in einer kalten, nebligen Dämmerung, das Gras war grau und stumpf, die Schafe waren nach Hause gegangen, die Zaunpfosten umgestürzt, und mitten in der Wiese stand ein weinroter Baumstrunk, ganz allein, wie ein Fremdling.

Aber von solchen Bildern gab es nur wenige. Sie hingen unter den andern wie eine gefährliche Drohung, erschreckend, doch noch in der Minderheit.

An einem der Fenster, durch die man hinabsehen konnte in den Schloßgarten, blieb der Vetter Liborius stehen. . Sieh nur, Junge, wie die Sonne über den Dächern steht!. sagte er. . Und da, der Schloßgiebel mit dem Gefängnisturm und den Schwalben! Und da, der Teich hinter den Tannen! Das ganze Dorf ist voller Bilder; man muß nur die Augen aufreißen und hingucken und alles andere vergessen..

. Onkel Liborius. , fragte ich, . muß man noch mehr tun, wenn man ein schönes Bild malen will?.

. Aber sicher. , antwortete er. . Wenn der Mond scheint, muß man manchmal des Nachts aufstehen und in den Wald gehen. Da kann man Wunderdinge erleben. Ich mache es oft so; denn wer etwas Schönes malen will, muß erst etwas Schönes gesehen haben; und in der Nacht ist der Wald viel schöner als am Tage. Dann gehe ich hinter dem Dorf hinauf ins Köhlerholz. Ganz still ist es da. Nur ein Kauz schreit, der Wind rauscht in den Baumwipfeln, und im Moos murmelt der Bach. - Glaub mir, Junge: eine einzige Minute, in der ich die Sprache des Mondes verstehe, ist tausendmal schöner als ein ganzes Jahr, das der dicke Schmied bei Bier und Kartenspiel verbringt..

. Onkel Liborius, nehmt mich doch einmal mit in den Wald!. bat ich.

. Das geht nicht, Junge. , antwortete er. . Wer den Mond verstehen will, muß ganz allein sein; denn, siehst du, ein Bild muß man ja auch ganz allein malen..

Während er das noch sagte, entdeckte ich, daß an der Brüstung des Fensters eine Leiter angelehnt war, die hinabführte in den Schloßgarten.

. Warum steht denn die Leiter da?. fragte ich neugierig.

. Das ist wegen der Dämonen, die im Hause sind. , war die ernste Antwort. . Sie machen sich manchmal bemerkbar; dann muß man ihnen ausweichen können..

Damit verabschiedete mich der seltsame Mann. Er gab mir noch einen Apfel, ich nahm meine Bilder unter den Arm und stieg die Treppe hinab.

Von dem Tag an besuchte ich den Vetter Liborius fast jede Woche, und ich spürte dabei dunkel, wie die Sehnsucht ständig in ihm wuchs, die Sehnsucht, den Dingen ganz nahe zu sein und immer tiefer in ihr Wesen einzudringen. - Eines Tages aber trat etwas ein, das mich mit jähem Entsetzen schlug.

Es war an einem Winterabend, als der Maler mit mir in seiner Stube vor dem Ofen saß. Es war ein alter Ofen mit mehreren Stockwerken und großen, gußeisernen Platten, auf denen eine Menge von verschlungenen Ornamenten und weißen Porzellanköpfen angebracht war. Der Vetter Liborius hatte die Ofenklappe geöffnet und sah mit großen Augen in die Flammen, und der Schein des Feuers rötete sein bleiches, hohlwangiges Gesicht, sprang zuckend über Decke und Wände und erfüllte die Stube mit merkwürdigen, geheimnisvollen Gestalten.

. Du, Onkel Liborius. , fragte ich in der Stille des Raumes, in der nur das Knistern des brennenden Holzes zu hören war, . wo sind eigentlich die schönsten Bilder, die es gibt?.

. Das will ich dir erzählen, Junge. , antwortete der Maler, . denn das ist eine wichtige Geschichte. - Die schönsten Bilder sind weit von uns weg, und wer zu ihnen gelangen will, der muß in einen großen, tiefen Wald hineingehen. Und je tiefer man in den Wald hineingeht, um so schmaler und gefährlicher wird der Weg, und die schönsten Bilder sind noch weit. Endlich aber tut sich eine Lichtung auf, und mitten auf der Lichtung steht ein Brunnen mit dem Wasser des Lebens. Wer sich in ihm wäscht, der sieht die schönsten Bilder, die auf seinem Grunde liegen, eines immer schöner als das andere..

. Warum wird denn der Weg durch den Wald immer gefährlicher?. fragte ich.

Der Vetter Liborius hob jäh den Kopf und blickte mich wild an. . Weil zwischen den Baumwurzeln die Teufel lauern!. rief er. Sein vom Feuer gerötetes Gesicht mit den eingefallenen Wangen, dem schwarzen Bart und den glühenden Augen sah in diesem Augenblick entsetzlich aus. . In diesem Hause stecken a u c h die Dämonen!. fuhr er fort, mit schriller, fremder Stimme. Und damit sprang er auf, holte eine Flinte hinter dem Schrank hervor, legte an und schoß, daß die Schrotkörner unter Krach und Blitz in das Dekkengebälk schlugen. Danach wischte er sich den Schweiß von der Stirn und sagte mit grimmiger Genugtuung: . So! E i n Eichhörnchen habe ich wieder hinter der Tapete heruntergefegt!. Im selben Augenblick kollerte ein Apfel vom Schrank herab und fiel auf den Boden. Der Vetter Liborius erschrak, blickte wirr um sich, warf die Flinte über den Rücken und riß das Fenster auf, an dem die Leiter lehnte. Und in Sekundenschnelle war er draußen hinabgestiegen und in der Weite des Schloßgartens verschwunden. Der Wind stob durch das Fenster herein, die Schatten huschten gespenstisch an den Wänden entlang, ich riß schreiend die Stubentür auf, stürmte die Treppe hinab und rannte nach Hause, wo mich die Mutter in die Arme schloß; ich war noch ganz verwirrt und verängstigt.

Das ist mein letzter Besuch beim Vetter Liborius gewesen. Seit der Stunde hielt mich die Angst von ihm fern. - Wenige Wochen später hieß es, er habe seinem Leben ein Ende gemacht, und nun, nach seinem Tode erst, erkannte ich, wie gern ich ihn gehabt hatte.

. Der Vetter Liborius ist ein guter Mann gewesen. , sagte der Benefiziat am Morgen vor der Beerdigung zu meinem Vater. . Ich habe ihn gut gekannt; und ich habe auch für ihn gesprochen. Es war eine erregte Vorstandssitzung gestern abend. Es wurden Stimmen laut, man solle ihn verscharren, er sei ein Selbstmörder. Aber ich habe das kirchliche Begräbnis durchgesetzt. Er ist dem Himmel immer sehr nahe gewesen, der Vetter Liborius, dem Himmel - und der Hölle. Denn Licht und Schatten sind nahe Verwandte, und die Tiefe birgt ihre eigenen Gefahren; Gefahren, die den, der zeit seines Lebens auf der Oberfläche schreitet, freilich kaum bedrohen..

...Manchmal, wenn ich die Augen schließe und an meine Kindheit denke, sehe ich den Vetter Liborius vor mir, wie er so sehnsüchtig in den Sonnenschein blickt und seine Arme ausstreckt, als wolle er eine Welt voll Licht und Schönheit umfassen, und ich wünsche, ich möge ihm noch einmal begeg-

nen. Denn ich weiß ja, daß er unter den Glücklichen weilt. Er hat den letz-

ten Schritt getan: wie er es sich immer ersehnt hat, so ist er hinabgestiegen zur Tiefe jenes Brunnens, mit dessen Was-

ser er sich zu Lebzeiten die Augen genetzt.


 



Wenn der Mond scheint, muß man manchmal des Nachts aufstehen und in den Wald gehen. Da kann man Wunderdinge erleben.