Tagesausflug mit Maxim
von Theodor Weißenborn

Gestern ist der alte Schafstall in Crotet abgebrannt. "Vorbei!. ruft der Wind, ders gesehen hat und der auch weiß, was morgen ist, weil er alles weiß, aber er sagt nur: "Heute ist heut!. und was morgen ist, das sagt er mir morgen und so immer fort.

Dies ist solch ein Tag, an dem die Luft leichter und frischer weht, du öffnest ein Fenster, und mit dem ersten Atemzug strömt eine kühle Wärme in dich ein, du fühlst dich emporgehoben und davongetragen, steigst empor mit den Lerchen und flatterst herab, bellst mit den Hunden, krähst mit dem Hahn der Ligauts, blätterst im Laub der Ulmen drunten am Tor und trappelst mit Monsieur Dignes Esel, der den gummibereiften Postwagen zieht, die Serpentine nach La Gazelle hinauf. Du siehst, wie der weiße Straßenstaub seine Hufe umweht, und hörst den weichen, mahlenden Laut der Räder im Sand und ein Klirren dann und wann, wenn eines der kleinen Hufeisen auf eine Steinscherbe trifft.

An einem solchen Morgen lege ich mir in Gedanken zurecht, was zu tun ist: herauszufinden ist, was geschieht, wenn ein Ich sich zum Du wird, wenn ich du sage zu mir, und wenn das Du mir antwortet und seinerseits zum Ich wird - muß mir da nicht schwindeln? Und wissen möcht ich, woher Regen, Wasser und Wind ihre Stimmen haben, die zu mir sprechen, und was es ist, das sie mir sagen, und warum meine Rede zurückbleibt hinter der ihren oder ihr vorauseilt und sie auf die eine wie die andere Weise verfehlt. Und wissen möcht ich, warum ich wissen will, obs nicht genügt, zu lauschen und zu schauen und das Geschaute und das Erlauschte zu bestaunen, wobei allenfalls zu besorgen wäre, daß ichs nicht störe, damit es sei, was es ist, so wie es selbst mich sein läßt als den, der ich bin.

Und wie ich noch grüble, da beginnen auch die Hufe des Esels zu sprechen und der Hammer in Monsieur Riqueurs Schmiede drunten im Dorf, und die sagen: "Wir trappeln und hämmern und damit genug!. Und der Wind pustet mir ins Ohr und sagt: "Flausen, nichts als Flausen! Die Ros blüht ohn Warum, das hat sie selbst mir gesagt.

Und wenn also Wind und Rose und Esel kein Warum haben - warum dann ich?

Darum!

Und wie immer es sei - an diesem Tag steige ich mit Rucksack und Hund auf den Gipfel des Mont Gris, weil ich hoffe, daß der Wind mir dort Flötentöne beibringt, die ich wenn nicht selbst erzeugen, so doch für andere Flötisten notieren kann. Der Hund ist Maxim, welcher Name ein Bonus auf seine Zukunft ist, denn noch ist er ein Knabe von fünf Monaten mit großen Pfoten und wenig Bergerfahrung, und wenn er unterwegs Seitenstechen bekommt, werde ich ihn im Rucksack huckepack tragen, und dabei wird er mir die Krempe des Strohhuts zerbeißen. Dies sage ich deshalb mit Bestimmtheit, weil ich über hellseherische Fähigkeiten verfüge und - zumindest in klar überschaubaren Zusammenhängen - die Zukunft voraussagen kann.

Zunächst gehen Mensch und Hund auf den Huf- und Reifenspuren von Esel und Postwagen die Straße in Richtung La Gazelle hinauf, wobei der Hund nach den Düften des Esels schnobert und der Mensch kindischerweise darauf bedacht ist, seine Tritte genau auf die Mitte der rechten Reifenspur zu setzen. Zu sehen, wie dies gelingt, das erfüllt ihn mit tiefer Befriedigung, zumal in gelegentlicher Rückschau, wenn er sich umwendet und sieht, wie akkurat sich das Muster seiner Schuhsohlen auf dem des Reifens abzeichnet.

Dann, an der Ecke seines Gemüsegartens, sagt der Mensch dem Hund, wos langgeht: nämlich hinter dem Grenzmäuerchen auf weglosem Wald- und Wiesengelände bergan in zunächst sanfter und dann immer schrofferer Steigung bis zur Baumgrenze, wo nach den Fichten auch die Maulbeerbäumchen aussterben, nur mehr dorniges Gestrüpp gedeiht, dem der Hund abhold ist, und ein wenig Gras auf Kalk- und Mergelgrund, den Geröll bedeckt und auf dem der listenreiche Odysseus im Zickzackkurs weitersteigt. Dabei hat er den Blick am Boden, plant Schritt um Schritt in meterweiter Voraussicht, setzt Fuß vor Fuß, damit er nicht umknickt, möglichst flach auf den knirschenden Schutt, sucht das Solide und meidet das Lose, während der kleine Maximus, immer auf der Suche nach der Direttissima, keine Verstiegenheit scheut, trabt, wo er besser im Schritt ginge, und lieber einer Hummel nachschaut, als auf den Weg zu achten.

Und schon hat er ein Steinchen zwischen den Zehen, klagt mit Geheul und hält dem Menschen, dem großen Heiler, den rechten Vorderlauf hin. Er wird entsteint, ermahnt und getröstet, reckt die Nase gegen den Wind und rennt fürbaß.

Oberhalb von La Gazelle, wo aus dem Kamin des letzten noch bewohnten Hauses ein Räuchlein aufsteigt, kommen wir auf einen Schafspfad, der sich in gemächlicher Steigung zwischen herabgestürzten Felsbrocken und steil aus dem Grund ragenden Klippen hinaufwindet auf die Höhe des Plateaus. Trappelnd und trommelnd haben die Hufe der Tiere hier in Jahrhunderten einen Hohlweg in die Abbruchkante der Hochfläche gefräst. Der Weg endet, indem er sich oberhalb des Engpasses in alle Richtungen hin verzweigt, und seine letzten sichtbaren grauweißen Spuren verlaufen sich im Weidegras.

Hier kannst du ausschreiten, soweit das Auge reicht, auf einer schier endlosen grünen Fläche, die sanft buckelt, sich zu Mulden vertieft und nach Norden hin insgesamt ansteigt bis hin zu den Monts Dore, von wo du an klaren Tagen über Orcival hinweg bis zur Kette der Puys blickst.

Mein Ziel ist bescheidener, es hält sich in erreichbarer Nähe: es ist der Mont Gris, der über Châtelet und dem Val dAuvergne aufragt, einer der kleineren Vulkanberge mit längst verschüttetem Krater, aber noch erkennbarem kreisförmigen Grat, dessen gezackte Zinnen da und dort noch die basaltnen Prismen erkennen lassen, die Reste des Fließgesteins, das den weicheren Kalk durchbrach und um dessen Säulen die Winde orgeln. Hier, auf der Höhe des Mont Gris, inmitten der Trümmerwüste, werde ich lagern den langen Nachmittag lang, im Fels- und Wolkenschatten, mit Schmetterling, Käfer, Habicht und Hund - und einem Salamander, der auf Maxim zugleich faszinierend und haarsträubend wirkt.

Sattgetrunken haben sich Mensch und Hund am Wasser der Senke am Fuß des Bergkegels, wo auch die Schafe trinken, am reinsten Wasser, das du auf Erden noch finden magst, weich, kühl und durchsichtig klar bis auf den Mergelgrund.

Wer trinkt, will aber auch essen, und schwierig wird nun die gerechte Teilung eines einpfündigen Brotes und einer handlangen, armdicken Wurst. Nach welchem moralischen Prinzip soll man verfahren? Verquaste Charaktere sagen in solchem Falle: "Nichts für mich, alles für andere!. und hoffen sich einen Platz im Himmel zu sichern, indem sie alle Schuld dem Beschenkten aufbürden. Am strahlendsten leuchtete mir selbst immer die von Aristoteles über Thomas von Aquin auf Marx überkommene Maxime ein: "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!. Indes: wie bemißt sich das Bedürfnis? Am Ernährungszustand? Am Speichelfluß? Aristoteles hätte gesagt: "Am Körpergewicht. und hätte den schwersten Gewichthebern die größten Portionen zugesprochen. Also bekommt der Hund von allem ein Viertel, weil ich viermal so schwer bin wie er, und dazu - weil ihm Aristoteles Wurst ist - ein zweites Viertel als Wachstumszulage, so daß nach den Regeln der klassischen Arithmetik jeder die Hälfte erhält. Der Mensch, obwohl er die schlechteren Zähne hat, muß dabei vom Stück abbeißen, dem Hund werden mundgerechte Bissen serviert, die der Mensch, in Ermangelung seines vergessenen Taschenmessers, mit dem Daumennagel für ihn abkneift. Der Mensch ißt manierlich, wenn auch ohne Messer und Gabel, der Hund happt, schmatzt und schlingt - schmecken tuts beiden.

Nach dem Mittagessen halten Mensch und Hund Ruhe, liegen dösend im Schatten einer Felswand und lauschen mit halbem Ohr den Stimmen des Windes, der leichtfüßig am Boden hinläuft, das Haar und den Grind der Erde streichelt, die Harfe der Gräser durchhaucht und in den Halmen lispelt, und wie sie widerstandslos einschlummern, werden sie auch mühelos wieder wach im Wehen des Windes, denn der ist immer noch da, nur frischer, lebhafter als zuvor. Sein Atem umflattert die Felszinnen in der Höhe, tönt dunkel in einer Höhlung, durchfaucht einen Kamin, und er hält den Ton so lang, daß du denkst: nun geht ihm die Puste aus! Nun muß er doch einatmen! Erschöpft sein! Abbrechen! - Aber er weiß schon, an welchen Stellen er kaum merklich Luft holen, blitzschnell nachfassen und den Lungenbalg füllen kann, und wieder geht sein Gebläse, versetzt er in Schwingung, was mitschwingen mag: die Zungen der Gräser, die er durchkämmt, schmirgelt er den Fels mit dessen eigenen Sanden, und so immer fort, so heute wie morgen, am Tag wie des Nachts, und wenn Mensch und Hund schon gegangen sind und ihr Rastplatz verlassen daliegt, wird er immer noch wehen, allein in der Abenddämmerung, und schleifen und reiben und das Zerriebene fortblasen, auch wenn keiner ihm zusieht und keiner ihn hört.

Aber noch denke ich nicht an den Heimweg. Auf dem Rücken liegend, in der Kratermulde, die Hände im Nacken, lausche ich den Geräuschen des geschäftigen Windes über mir im Gestein, und ins Himmelblau blickend, in dem Wolken quellen, sehe ich, wie er unhörbar und kaum sichtbar auch dort in der Höhe sich müht, das Bestehende zu wandeln, das Ruhende zu wecken, das Träge zu lüften, und es bedarf langer Sekunden genauen und geduldigen Hinschauens, bis mein Auge die winzigen Veränderungen im Detail des scheinbar unbeweglichen Ganzen wahrnimmt.

Da ist ein Kaspisches Meer, das seit einer Minute von den Küsten zur Mitte hin austrocknet. Der weiße Sandstrand rückt vor, schließt sich enger, immer enger zusammen um ein schrumpfendes Restgewässer, einen kleinen Tümpel, der nun gänzlich verdunstet, ein letztes Pünktchen Blau - nun ists weg, verschlungen vom Weiß des Sandes, gelöscht und getilgt für immer. Wo war doch die Stelle, an der dies vor eines Wimpernschlags Dauer geschah? Du erkennst sie nicht wieder, sie ist verschwunden wie der Raum mit dem Ding, das er barg, wie die Zeit mit dem Vorgang, den sie maß.

Aber da öffnet sich ein Quell, ein See, ein Binnenmeer in der Wüste Australiens, ein neues Blau erscheint, das sich weitet und dehnt, der Kontinent zerreißt, seine Schollen driften auseinander wie die Festlandschollen Afrikas und Südamerikas, und Raum und Zeit sind wieder da mit den Dingen, an die das Auge sich hält, die es erkennend ins Leben ruft, indem es sie hervorhebt aus dem Grund - das Weiß aus dem Blau oder das Blau aus dem Weiß -, und die Dinge lehren das Auge sehen, indem sie sich zeigen, und ohne die Dinge wäre das Auge blind, und ohne das Auge könnten die Dinge nicht einen Augenblick sein.

Und wie hier ein Ganzes sich auflöst, verschmelzen an anderen Orten Teile zu neuer Ganzheit, die ihrerseits zerfällt, und wie da und dort Zerstreutes sich sammelt, wird hier die Herde auseinandergetrieben, irrt das Verlorene umher und klagt, bis es wieder geborgen im Stall ist, kräuselt sich der Sinn und kreuzen sich die Sinne wie die Richtungen von Wille und Widerwille, und scheint der Wind, der das eine wies andre bewirkt, selbst nicht zu wissen, was er will - nur anders solls werden, anders, partout, als es war! - scheint er selber von Sinnen, unsinnig im Kreis sich zu drehen, quirlend gequirlt und treibend getrieben. Doch nach minutenlanger Verfolgung des Gedränges mit den Augen ahnst du, wie das Gewölk insgesamt mit all seinen Kontinenten, seinen Strömungen und Strudeln von West nach Ost vorgerückt ist um eine Meile oder mehr, wie es, mäandernd oder wie trunken torkelnd, den Erdball umrundet, der sich unter ihm wegdreht, so daß Sinn und Widersinn, Drang und Widerstand, die sich scheinbar aufhoben, nun versöhnt scheinen im umgreifenden Willen eines Hirten, der sie zu Paaren treibt.

Maxim, der sich derweil vernachlässigt fühlt, apportiert Steinchen und blafft. Was am Himmel geschieht, ist ihm zu hoch, sein Mensch, dieser Langweiler, soll sich gefälligst bewegen, und was die Metamorphose der Wolken betrifft, beende ich daher meine Ausführungen mit einem Hinweis auf Goethe, der schon vor mir erkannte, das Getrennte zu einen und das Geeinte zu trennen, sei das Wirken der Natur.

Und in der nächsten Lektion, die der vergleichenden Anatomie gewidmet ist, befassen wir uns dann mit der Entdeckung des Zwischenkiefers.

Auf dem Heimweg, im Abendwind und bei schwindendem Licht, findet Maxim am Ortsausgang von La Gazelle zwar keinen Kieferknochen, aber ein Horn, das eine Kuh verloren hat und nicht wiederhaben will, so daß ers behalten darf, und er

trägts als Beutestück hoch vor sich her und wird lange daran zu nagen haben und es grollend verteidigen gegen Madame Ligaut, wenn sie Hausputz macht.



 


Nach dem Mittagessen halten Mensch und Hund Ruhe im Schatten einer Felswand und lauschen mit halbem Ohr den Stimmen des Windes.