Das Recht zu träumen
Vor 175 Jahren wurde Eugenie Marlitt geboren
von Brigitte Squarr

Kritiker mögen sich die Haare raufen: Hätte es im vergangenen Jahrhundert Bestsellerlisten gegeben, sie wären von einer Frau über Jahre hinweg angeführt worden. Die erste Bestsellerautorin in der Geschichte der deutschen Literatur hieß Eugenie Marlitt.

Dieser Erfolg war weder geplant noch vorhersehbar. Die vor 175 Jahren am 5. Dezember 1825 in Arnstadt geborene Friederike Christiane Henriette John sollte singen, nicht schreiben. Ihr Gesangstalent schien der verarmten Familie des ehemaligen Kaufmanns Ernst Johann Friedrich John, der sich mit Gelegenheitsmalerei über Wasser hielt, wie ein Silberstreif am Horizont. Und eine glückliche Fügung ließ die Fürstin von Schwarzburg-Sondershausen als Mäzenin die Kosten der Ausbildung zur Opernsängerin übernehmen.

1846 in Leipzig debütiert, fand die Bühnenlaufbahn des von den Eltern Eugenie genannten Fräulein John sieben Jahre später ein jähes Ende. Ein Gehörleiden, das zwar nur sporadisch auftrat, die

Sängerin dann aber nahezu taub werden ließ, verwehrte jegliche Weiterentwicklung in diesem Beruf. Wieder stand die Mäzenin hilfreich zur Seite und stellte die junge Frau als Gesellschafterin ein. Als der Haushalt der geschiedenen Fürstin im Jahre 1863 aus finanziellen Gründen stark eingeschränkt werden mußte, blieb Eugenie nur die Rückkehr nach Arnstadt. Wie auch ihr inzwischen verwitweter Vater lebte sie bei ihrem Bruder Alfred und seiner Familie.

Bestrebt, für ihren Unterhalt selbst zu sorgen, gab sie Klavier- und Gesangsstunden, fertigte Handarbeiten und sandte 1865 zwei vollendete Manuskripte an Ernst Keil, den Herausgeber der bekannten Familienzeitschrift "Gartenlaube. . Als dieser die Novelle "Die zwölf Apostel. begeistert annahm und "E. Marlitt. zur weiteren Mitarbeit an seiner Zeitschrift aufforderte, schickte sie ihm den Roman "Goldelse. ; der Auftakt einer für beide Seiten äußerst fruchtbaren Zusammenarbeit. E. Marlitt wurde zur meistgelesenen Schriftstellerin ihrer Zeit. Im Mittelpunkt ihrer Romane standen starke Frauen, die ihr Schicksal selbstbewußt, aber dennoch fraulich, meisterten und intakte Familien. Auf dieser Basis vereinigte sie Männer und Frauen sämtlicher Bevölkerungsschichten zu ihrer Leserschaft.

Das Pseudonym bestand aus der Abkürzung ihres Rufnamens sowie den Anfangsbuchstaben der Worte "Meine Arnstädter Litteratur. und sorgte dafür, daß E. Marlitt zunächst als "männlich. angesehen wurde. Das schützte vor Kritik. Schnell änderte sich dies, als bekannt wurde, daß es sich bei E. Marlitt um eine Frau handelte. Tatsächlich wurde die Marlitt von ihren männlichen Zeitgenossen und der ihr nachfolgenden literarischen Generation der Realisten weitaus heftiger angegriffen als von der heutigen Literaturwissenschaft. Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel. Michael Kienzle ging 1975 in seinen Unterstellungen so weit, das Gehörleiden der Schriftstellerin als psychosomatisch hinzustellen, hervorgerufen aus ihrer Scheu vor öffentlichen Auftritten. In diesem Fall hätten sich die Beschwerden bald nach Aufgabe ihrer Gesangslaufbahn legen, zumindest stark bessern müssen. Das war aber nicht der Fall.

Die Kritik ihrer Zeitgenossen wollte vornehmlich die "schriftstellernde Frau. treffen - die Bezeichnung "Schriftstellerin" wurde vermieden -, denn die Marlitt bewegte sich auf einem Gebiet, das noch als männliche Domäne angesehen wurde. Nach M. Zitterer wurde eine Schriftstellerin des 19. Jahrhunderts von der - natürlich männlichen - Literaturkritik entweder totgeschwiegen oder vernichtet. Totschweigen konnte man E. Marlitt nicht.

1863 erschien die "Gartenlaube. mit 157.000 Exemplaren. 1866, nach Druck der "Goldelse. , stieg die Auflage auf 225.000 und in der Folgezeit bis 1881 weiter auf 378.000 Exemplare. Die der Erstveröffentlichung folgenden Buchausgaben erreichten schnell sechs bis acht Auflagen, wurden in nahezu alle europäischen Sprachen übersetzt, erschienen in Fernost und in den USA gar in zwei Sprachen, nämlich in Deutsch und Englisch.

Totschweigen war also unmöglich. Man ging dazu über, ihre Werke zu zerreißen, die Schriftstellerin lächerlich zu machen. Da war von der "Gartenlaubenherrscherin. und der "Gartenlaubentante. die Rede, die ständig ihre "Aschenbrödel-Motive. - armes Mädchen heiratet gutgestellten Mann - wiederhole. Paul Heyse diskriminierte das gesamte Genre des Familienromans als "Marliteratur. , und Fontane gab seinen Neid auf den Erfolg der Kollegin offen zu, als er hetzte, deren Romane würden gar noch ins "Vorder- und Hinterindische. übersetzt, während sich um ihn keine Katze kümmere. Aber E. Marlitt schrieb nicht für Kritiker, sondern für ihre Leser, und diese überhörten die Schelte. Ihnen bot die Schriftstellerin einen neuen, vorher in dieser Art nicht vorhandenen Lesestoff. Eine Unterhaltungsliteratur, in die Eugenie Marlitt kaum merklich ein höhergestecktes Ziel, den Leser zum Liberalismus hinzulenken, einflocht.

Wer behauptet, Marlitt habe an der Emanzipationsbewegung vorbeigeschrieben, irrt! Sie selbst hatte sich emanzipiert, verdiente ihr Geld in einem Männerberuf und verdiente nicht schlecht. Ihr Leben und Werk ermutigte Frauen zum selbständigen Denken und Handeln. Offen sprach sie immer wieder über ihr Ideal: Frauen sollten ihr Leben auf einen Beruf, nicht auf die Abhängigkeit von einem Mann aufbauen und trotz alledem Frau bleiben. Unumwunden sprach sie sich für die Ehe aus, aber in Form einer freiwilligen Entscheidung zur Neigungsehe. Die weit verbreitete Konvenienzehe lehnte sie ab. An Männer wandte sie sich mit der unterschwelligen Botschaft, daß sie mit einer gebildeten und tatkräftigen Frau alltägliche Probleme weitaus besser bewältigen könnten.

Wogegen Marlitt sich wandte, war jeglicher Wildwuchs der Emanzipation. Zigarrenrauchen ist nicht zwingend ein Zeichen von Gleichberechtigung. Indem sie gesellschaftliche Mißstände beim Namen nannte und Frauen nahelegte, Unrecht nicht schweigend hinzunehmen, sondern sich aktiv zur Wehr zu setzen, forderte sie zu etwas auf, das heute Zivilcourage genannt wird.

Trivialromane - die breite Leserschaft liebt sie im gleichen Ausmaß wie die Kritiker sie bekämpfen. Für viele ist er eine Chance, dem Alltag in eine Welt zu entfliehen, die Gut und Böse klar unterscheidet und in der das Gute stets siegt. Leserinnen und Leser wissen um die Fiktion dieses Traums, den sie offensichtlich brauchen, um die Wirklichkeit ein bißchen leichter zu ertragen. Das war damals nicht anders als heute. In der langen Reihe der Schöpfer solcher "Traum-schiffe. stand E. Marlitt ganz am Anfang. Als die Schriftstellerin am 22. Juni 1887 starb, folgte eine gewaltige Trauergemeinde dem Sarg der Eugenie John. - E. Marlitt lebte weiter.



 



Eugenie Marlitt (1825 1887) wurde zur meistgelesenen Schriftstellerin ihrer Zeit, obwohl oder weil sie Trivialromane schrieb. Leserinnen und Leser liebten sie, die Kritik bekämpfte und verspottete sie. (Mit freundlicher Genehmigung des Stadtgeschichtsmuseums Arnstadt.)