... fortsetzung

"Verbesserter und Vollkommener Staats-Calender, Genannt der Hinckende Bott. Darinnen Die zwölf Monat, Natur und Eigenschaften derselben, des Monds Ab- und Zunehmen, und andere gewöhnliche Astrologische Verfassungen: darneben ein richtiges Verzeichniß der Posten, Messen, Jahrmärkten, und andern curiosen Sachen. Absonderlich aber eine Gründliche Erzehlung alles dessen, was sich vorhin, und jetztmalen weiters in Deutschland, Frankreich, Holl- und Engell. etc.[,] auch sonsten hin und wieder Merkwürdiges begeben und zugetragen, in möglichst kurzer Form zu finden, und dem gemeinen Mann, welcher allzu theure grössere Werke nicht kaufen kan[n], zu Gutem, nun zum 4ten Male heraus gegeben worden [ist]. Auf das Gnadenreiche Christ-Jahr MDCCCIV. durch Antoni Sorgmann, der Mathematischen Künsten[!], und denkwürdigen Geschichten besondern Liebhabern. Lahr, zu finden bey Johann Heinrich Geiger 1804[!]."

Damit ähnelt er dem Basler Hinkenden Boten zum Verwechseln: bis auf wenige abweichende Buchstaben hat er das Titelblatt des großen Vorbilds einfach abgekupfert, dazu noch keck das Wort "Neuer" durch "Vollkommener" ersetzt und seinen Verlag statt den Basler daruntergesetzt. Sogar der angebliche Verfasser "Antoni Sorgmann" ist mit übernommen (er hätte allerdings sehr alt werden müssen, wenn er ein wirklicher Autor gewesen wäre: sein Name ziert schon im 17. Jh. die Titelblätter von Volkskalendern ...). Auch die Umschlagabbildung mit all den neugierig machenden Zutaten: dem Stelzfuß vor Seeschlacht, Unwetter, Krieg, Großbrand, lauerndem Krododil usw. hat er einfach nachschneiden lassen; bloß der Basler Bischofsstab ist durch das Stadtwappen von Lahr ersetzt. Lediglich am Umfang merkt man, daß Geiger noch vorsichtig kalkulieren muß: der neue Lahrer hat

24 Seiten weniger als der alteingeführte Basler "Hinkende Bote". Doch er bringt alles, was man auch dort findet: Das rot-schwarz gedruckte Kalendarium mit Wettervorhersage und Gesundheitsratschlägen; das abergläubische Aderlassmännlein, ein "Verzeichniß der vornehmsten kaiserlich- königlich- und fürstlichen Personen und Regierungen", "Beiläufige Größe, Bevölkerung, Einkünfte, Kriegsmacht etc. der vorzüglichsten europäischen Staaten", das unerlässliche "Verzeichniß der Messen und Märkte im Breisgau, der Ortenau, und einem Theil des Schwarzwalds", eine Zinstabelle und "Geschichten oder Beschreibung der denkwürdigsten Begebenheiten, die sich in der lezten Hälfte des 1802ten und in der ersten Hälfte des 1803ten Jahres hin und wieder in der Welt, sonderheitlich aber in Europa, zugetragen haben" und Holzschnitte von sensationellen Begebenheiten, z. B. die Gefangenschaft des Schinderhannes und seiner Bande.

Daneben aber weist der Lahrer "Hinkende Bote" von 1804 einige Überraschungen auf. Neben dem Kalendarium stehen

nicht die üblichen oft recht unbedeutenden Geschichtchen oder Mittel gegen Läuse, sondern - "Robinson Crusoe" als Fortsetzungsroman! Und noch mehr: ebenfalls neben dem Kalendarium steht ein Gedicht: "Der Jenner. (Im Volkston)" Es beginnt: "Im Aetti sezt der Oeldampf zu! / Mer chönnte 's Aempeli use thue". Die Quelle ist nicht genannt: es stammt aus den soeben (1803) in Karlsruhe anonym erschienenen "Alemannischen Gedichten" von Johann Peter Hebel! Weiter hinten folgt noch Hebels Meisterwerk "Die Vergänglichkeit". Der Lahrer "Hinkende Bote" brachte also von Anfang an große Literatur in die Familien seiner Leser wie sein Titelblatt versprochen hatte: dem "gemeinen Mann, welcher ... grössere Werke nicht kaufen kan[n], zu Gutem".

Das wurde seine Rettung. Denn ein so weitgehendes Plagiat, wie es Geiger mit der äußerlichen Nachahmung des "Basler Hinkenden Boten" beging, war auch in jenen Zeiten vor unserem modernen Urheberrecht ungewöhnlich. Die badische Regierung (Lahr war 1803 an Baden gefallen) war daher zunächst geneigt, den "Lahrer Hinkenden" zu verbieten, kaum daß er gegründet war. Der Nutzen, den gerade die von Geiger mit Sorgfalt selbst zusammengestellten Teile für den badischen Bürger und Landmann versprachen, scheint die badischen Behörden umgestimmt zu haben.

Geiger dankte es ihnen mit vorzüglichen Reisebeschreibungen und Landkarten, mit denen der Kalender zwanzig Jahre lang die Badener mit dem eben erst unter Napoleon zu einem zusammenhängenden Gebiet zusammengefügten und enorm vergrößerten neuen Land Baden vertraut machte. Und der "Lahrer Hinkende Bote" blühte auf: schon 1813 hatte er eine Auflage von 20.000 Exemplaren, und während 1845 der erste seiner Basler Konkurrenten einging, steuerte er auf seinen Höhepunkt zu: nach 1850 erreichte er die geradezu unglaubliche Auflage von mehr als einer halben Million Exemplaren, in den 70er Jahren bis zu einer Million und wurde "der erfolgreichste Kalender überhaupt" mit Lizenzausgaben für ferne Gebiete und mit einem großen Abnehmerkreis in Amerika. Auch äußerlich wurde er immer ansehnlicher und selbstbewußter: im Umfang stand er dem Basler "Hinkenden Boten" bald nicht mehr nach, 1812 erhielt er den offiziellen Titel "Der Lahrer Hinkende Bote oder Historisches Lesebuch für den Bürger und Landmann", 1814 bekam er ein eigenes markantes Gesicht durch ein neues Titelblatt mit dem bis heute charakteristischen gebogenen Schriftband. Zwar wurde seine altertümliche Ausrüstung mit Botenstab (statt einem einfachen Wanderstock) und Schnecke erst 1825 komplettiert, doch kamen umgekehrt bald Dampfschiff und Eisenbahn dazu, und überhaupt bemühte sich der Lahrer Hinkende mehr und erfolgreicher als seine meisten Konkurrenten darum, seine treue Leserschaft mit neuen Erfindungen und modernen Gedanken unmerklich vertraut zu machen und so auf die Höhe der Zeit zu bringen. Nur mit der herkömmlichen Aderlass-Tafel machte er kurzen Prozeß: erst wird sie 1810 ironisch kommentiert; 1812 fehlt sie bereits ersatzlos! Und das behutsame Bemühen um Modernität wurde von seinen Lesern honoriert, anders als z.B. beim Berner Hinkenden Boten, dessen Leser noch am Ende des vorigen Jahrhunderts darauf beharrten, daß die herkömmlichen unsinnigen Wettervorhersagen weiterhin gedruckt werden mußten…

Was aber stärker wog als alle Modernität der Redaktion, waren die Veränderungen in der Medienlandschaft. Immer mehr Menschen fanden Zugang zu Zeitungen und Zeitschriften, das Telefon kam dazu, der Rundfunk, das Fernsehen, das Internet. Die Konkurrenz wurde nicht mehr zwischen den "Hinkenden Boten" ausgetragen, sondern zwischen verschiedenen Medien. Ihrem Einfluß auf den "Lahrer Hinkenden Boten" und seine Vettern nachzuspüren, wäre ein spannendes Kapitel Kulturgeschichte, das wir einem künftigen Chronisten überlassen müssen.

Die "Boten" sind zählebig, aber nicht unsterblich. Ein Chronist meldet 1978 neben dem Lahrer noch den Colmarer und einen Sauerländischen "Hinkenden Boten" (gegr. 1862) am Leben, 1996 ist der "Messageur Boiteux" von Vevey noch im 289. Jahrgang erschienen.





In den Zeiten seiner größten Verbreitung Mitte und Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Auflage des Lahrer Hinkenden Boten, sie erreichte rund eine Million, in Regionalausgaben aufgeteilt. Der Kalender 1870 für die österreichisch-ungarische Monarchie wurde in Troppau hergestellt.








Lauter Hinkende Boten aus Karlsruhe und Kehl (1785), Basel (1784), Vivis (Vevey 1810) und Frankfurt (1872).


Das III. Titelblatt zum Lahrer Hinkenden Boten 1804.