Sonnenjahr und Kirchenjahr
Natürliche Grundlagen christlicher Feste
von Bernhard Pollmann

Seit der Entstehung des Lebens auf unserer Erde ist die Sonne mehr als eine Billion Mal auf- und untergegangen, 50 Milliarden Mal wurde es Vollmond und Neumond, vier Milliarden Mal sind Frühling, Sommer, Herbst und Winter gekommen und wieder vergangen. Auf- und Untergang, Wachsen und Schlafen, Dunkel- und Lichtzeit, Saat und Ernte: Der Zyklus des Lebens mit seinem scheinbar ewigen Kreislauf von Entstehen, Reifen, Vergehen und Wiederwerden ist das fundamentalste natürliche Bezugssystem auf unserer Erde. Als markantester Zeitweiser in diesem Zyklus wurde neben dem Mond die Sonne betrachtet, die weltweit göttliche Verehrung als Leben spendende Kraft erfuhr: In Ägypten als Sonnengott Re, im Pantheon der Inka als Sonnengott Inti, im . Land der aufgehenden Sonne. führen die Tennos ihren Ursprung auf die Sonnengöttin Amaterasu zurück. Römische Soldaten und Kaiser verehrten Mithras als mit der Sonne verbundenen Erlösergott, und dem griechischen Sonnengott Helios entsprach der römische Sol invictus - die . unbesiegte Sonne. . Die alljährlich wiederkehrenden Fixpunkte im Kreis des Sonnenjahres als feste Tage, als . Festtage. zu begehen, spiegelte die Einbindung des Menschen in kosmisches Geschehen: Während der Feste war er dem Alltag entrückt, feierte seine Verbindung mit dem Universum und mit als göttlich gedachten Kräften und vollzog himmlisches Geschehen in religiösen Zeremonien nach . wie im Himmel, so auf Erden. .

Vor allem die Sonnenwenden waren Festzeiten schlechthin, da sie das Jahr in eine Hälfte mit . aufsteigendem. und eine mit . absteigendem. Licht teilen: Wenn die Sonne am 21./22. Dezember ihren südlichen Wendepunkt erreicht und die Nordhalbkugel der Erde die längste Nacht des Jahres hat, wird die Sonne als

kleines Licht-. Kind. wieder. geboren. ; wenn sie am 21./22. Juni ihren nördlichen Wendepunkt erreicht und Menschen, Tiere und Pflanzen auf der Nordhalbkugel der Erde den längsten Tag erleben, beginnt die Periode des solaren . Abstiegs. .

Wie auch immer diese solaren Wendepunkte genannt oder in welches Glaubenssystem sie eingebettet wurden: In ihrem Ursprung waren sie keine Glaubensangelegenheit. Um den Lauf des Sonnenjahres zu verstehen, mußte niemand . glauben. , sondern um natürliche Vorgänge . wissen. , im Einklang mit der Natur leben. Dieses Wissen ist heute in jedem Lexikon verfügbar - und wie vor Tausenden vor Jahren weiterhin erlebbar: An den Tagundnachtgleichen geht die Sonne im Osten, an Mittsommer im Nordosten und an Mittwinter im Südosten auf und jeder dieser Kardinal-

punkte symbolisiert den Übergang zu einem neuen Abschnitt im Kreislauf des Jahres.

Die intellektuelle Leistung, einen solaren Zeitplaner mit wiederkehrenden Fest-

tagen zu erstellen, wurde in Europa von den Menschen der Jungsteinzeit um 5000 v. Chr. erbracht. Als sie den Übergang von der Jagd- und Sammel-

wirtschaft zur produzierenden Wirtschaft und Seßhaftigkeit vollzogen, nahmen sie exakte Beobachtungen der Sonnenstände vor, da das Licht und die variierenden Tageslängen grundlegend für Ackerbau und Viehzucht sind. Dieser Kalender wird als . neolithischer Ackerbaukalender. bezeichnet. Sein Grundgerüst wird in Felszeichnungen und Ornamenten als vierspeichiges Sonnenrad versinnbildlicht. Die vier Speichen symbolisieren

die Sonnenwenden und Tagund-

nachtgleichen oder Morgen, Mittag, Abend und Nacht des Tages. Dieses Sonnenrad wurde mit einem ebenfalls vierspeichigen Vegetationszeitenrad kombiniert, in dem mit dem 1. Mai der Beginn des Sommerhalbjahres und mit dem 1. November der Beginn des Winterhalbjahres angesetzt wurde. Daraus ergaben sich acht . unbewegliche. , also immer zum selben Zeitpunkt des Sonnenjahres wiederkehrende Hauptfeste.

Die Menschen des Megalithikums haben keine schriftlichen Aufzeichnungen hinterlassen, die einzigen Zeugnisse aus jener Zeit sind Monumente aus . großen Steinen. , die vielfach auf Sonnenstände hin ausgerichtet sind. Schriftliche Quellen liegen erst über Kelten und Germanen vor, und diese Völker übernahmen den neolithischen Ackerbaukalender, aber mit Unterschieden: Während die Sonnen-wenden und Tagundnachtgleichen unverrückbar sind, gibt es bei den Vegetationszeitenfesten regionale Spielräume.

So wird das keltische Vorerntefest Lugnasad in der irisch-keltischen Tradition am 1. August und in der gallisch-keltischen Tradition am 15. August begangen. Allerdings wurde auch in der keltisch-irischen Tradition nicht nur am 1. August gefeiert, sondern auch 14 Tage davor und 14 Tage danach: Wettkämpfe, Pferderennen, religiöse Zeremonien, Bardenvorträge, politische Konferenzen, Jahrmärkte und weitere Veranstaltungen fanden einen ganzen Monat lang statt, der 15. August markierte das Ende der religiösen und weltlichen Lugnasad-Feiern. Genau dieser 15. August wurde als . Mariä Himmelfahrt. das bedeutendste Marienfest der katholischen Kirche.

Die heidnische Tradition verschüttete die natürlichen Grundlagen durch die Erfindung komplizierter Ritualkataloge und abgehobener Gottheiten: Die einen behaupteten, die Sonne sei weiblich, die anderen sagten, sie sei männlich, und der jeweils . richtige Glaube. wurde von den Mächtigen diktiert. Kaiser Aurelian ließ im Jahr 274 in Rom einen neuen Tempel für den Sonnengott Sol invictus errichten, proklamierte ihn zum Reichsgott und legte sein . Geburtsfest. auf den 25. Dezember fest - entsprechend der natürlichen Anschauung, daß die Sonne an Mittwinter als . Lichtkind. wieder . geboren. wird.

Die christliche Kirche übernahm diesen Termin im 4. Jahrhundert, nachdem das Christentum Staatsreligion geworden und die heidnischen Kulte im Römischen Reich verboten worden waren: Die Geburt Christi als der . Sonne der Gerechtigkeit. (Maleachi 3,20) in der Nacht auf den 25. Dezember wird seither am selben Termin wie das Geburtsfest des heidnischen Sonnengottes begangen, also fast genau zum Zeitpunkt der Wintersonnenwende. Christus wurde als der wahre Sol invictus aufgefaßt - als . Licht, das die Heiden erleuchtet. (Lukas 2,32). Entsprechend dieser Datierung wurde auch die Frühjahrs-Tagundnachtgleiche in den christlichen Festzyklus integriert: Das Fest Mariä Verkündigung wird am 25. März begangen - neun Monate vor der Geburt Christi.

Das in der Nacht auf den 1. Februar begangene keltische Fest Imbolc leitete den Frühling ein. Auch dieses Fest war ein Lichtfest, offenbarte sich doch das Sonnenlicht in einem deutlichen Längerwerden der Tage. Zugleich war es ein Reinigungsfest: Imbolc-Vorschriften,

wonach Hände, Füße und Kopf zu waschen sind, deuten auf rituelle Reinigungen hin.

Im christlichen Jahreskreis wurde Imbolc als Mariä Lichtmeß begangen in Anspielung auf das Lukas-Evangelium: Maria geht mit dem 40 Tage jungen Christus-Kind in den Tempel und vollzieht eine rituelle Reinigungszeremonie (daher auch der Name . Mariä Reinigung. ).

So griff das christliche Fest einer-

seits den Lichtcharakter auf (. Licht-

meß. ) und übernahm zugleich den Gedanken einer rituellen Reinigung.

Die Mittsommernacht wurde unter dem Namen Johannisnacht oder Sommer-

weihnacht in den christlichen Festkalender übernommen. Nahezu alle Volksbräuche der nach Johannes dem Täufer benannten Nacht sind auf vorchristliche Sonnenwendfeiern zurückzuführen: Feuerräder, Schiweschlage, Johannisfeuer, Quellen- und Brunnenschmücken, das Sammeln der Johannis-

kräuter und ihr Binden zu Johannis-

kränzen und -kronen.

Der Sonnenaufgang an den Festtagen wurde stets nachts erwartet, und bis heute werden viele alte Festtage

als . Nacht. bezeichnet: Weihnacht, Johannisnacht, Walpurgisnacht, Mitt-winternacht, Sankt-Martins-Abend, Osternacht, Fasenacht. Bei Festen, an denen sich der Hinweis auf die Nacht weiterhin im Namen erhalten hat, ist die Nacht weiterhin Bestandteil des Brauches: Obwohl die Kirche mit Hinweis auf die Unfallgefahr die nächtliche Bergbesteigung des Croagh Patrick verboten und die Wallfahrt auf den Sonntag verlegt hat, wird dieser . heilige Berg. Irlands bis heute von vielen Gläubigen nachts erstiegen, damit der Sonnen-

aufgang erlebt werden kann.

Bis ins Hochmittelalter wurden alle Sonnenjahreszeitenfeste dem christlichen Kalender nach und nach eingepaßt. Die . Christianisierung. heidnischer Feste förderte die Akzeptanz des neuen Glaubens unter der weiterhin stark in heidnischem Glauben verwurzelten Bevölkerung. Ein markantes Beispiel ist die Samhain-Nacht, die in der keltischen Mythologie als . Nacht der Vereinigung. gilt: Da mit Sonnenuntergang am 31. Oktober das Sommerhalbjahr endet, aber das Winterhalbjahr erst mit Sonnenaufgang beginnt, wurde diese Nacht als Nacht zwischen den Zeiten betrachtet, als Nacht, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfaßt und in der die Tore zwischen der Menschen- und der Anderswelt offen stehen; Feen, Tote, Gespenster, Hexen, Heilige, Böse - all diese Wesen können in der Samhain-Nacht in Kontakt mit den Menschen treten. Wer sich vor ihnen fürchtet, muß das Haus gut verschließen oder sie mit Feuern, Maskeraden und Opfern zu vertreiben versuchen.

Vom ausgehenden 8. Jahrhundert an wurde das Samhain-Fest christianisiert und zunächst in Irland und England unter dem Namen . Allerheiligen. am 1. November gefeiert: Aus dem keltischen Zauberwesenspuk wurde ein Fest des Gedenkens an verstorbene Heilige. Während der kluniazensischen Reform

im 10. Jahrhundert wurde das Fest Allerheiligen durch das Totengedächtnisfest Allerseelen am 2. November ergänzt: Bis heute gehen Katholiken an Allerseelen zu den Gräbern ihrer

Angehörigen, entzünden Kerzen (. Seelenlichter. ), schmücken die Gräber und sprechen mit den . Seelen. . Es ist ein spezifisch (nord-)europäisches Fest: Der byzantinischen und anderen östlichen Liturgien ist es bis heute unbekannt. Irische Auswanderer machten es in den USA populär, wo es sich heute als Halloween (holy evening = heiliger Abend) großer Beliebtheit erfreut mit Kindermaskeraden, Halloween-Parties und dem Aufstellen ausgehöhlter, mit Lichtern versehener Kürbisse. Die Ergänzung von Allerheiligen durch Allerseelen trug auch der Tatsache Rechnung, daß die alten Feste meist mehrere Tage dauerten. Diese Tradition wurde auch bei anderen Festen beibehalten: Weihnachten, Ostern und Pfingsten bestehen aus mehreren Festtagen.

Das jahreszeitliche Gegenstück zum keltischen Samhain war Beltene (bel = glänzend, tine = Feuer). Es wurde am 1. Mai gefeiert und markierte den Beginn des Sommerhalbjahrs: den Beginn der Fruchtbarkeitszeit und der Sömmerung des Viehs. Wie die Samhain-Nacht bildete die Beltene-Nacht in der keltischen Mythologie eine Nacht, in der die Geister der Anderswelt zugegen sind. Um dieses Zauberpandämonium fern zu halten, wurden Hügelfeuer angezündet, auch Ebereschenzweige galten als Schutz.

Im christlichen Festjahr wurde die heilige Walburg dazu ausersehen, dem Geisterspuk einen Riegel vorzuschieben: Das Walburg-Fest wurde auf den 30. April verlegt, die heilige Walburg wurde zum Schutz vor Zauberei in der . Walpurgisnacht. angerufen. Die tiefe Verankerung dieses Fests im keltischen und im germanischen Kulturkreis führte zu einer gewissen Verselbständigung:

Die . Walpurgisnacht. wurde zum Synonym für jene Nacht, in der die Hexen zum Brocken, zum Heuberg, zum Kandel und zu anderen . Blocksbergen. fahren und sich dort höllischem Treiben hingeben. In gesitteterer Form entwickelte sich diese Nacht zu jenem Trinkgelage, bei dem ein . Maibaum. aufgerichtet wird.

In der katholischen Tradition beginnt

mit dem 1. Mai der . Marienmonat. .

Die neuzeitliche Umwälzung des alten Festkalenders begann mit der reformatorischen Kultkritik und wurde von der Aufklärung fortgeführt. Die Reform-

atoren strichen alte Feste, die sie als . papistischen Götzendienst. oder als Zeichen der Unvernunft und des Aberglaubens werteten. So ist Basel eine der wenigen nichtkatholischen Städte, die die Tradition der . Fasenacht. fortführten, die anderen . Narrenhoch-

burgen. sind heute fast ausnahmslos katholisch. 1653 verbot der Rat der evangelischen Stadt Nürnberg sogar die Johannisfeuer als . abergläubisches und heidnisches Werk. .

Im 19. Jahrhundert verabschiedete sich die Festkultur scheinbar endgültig vom natürlichen Kreislauf des Sonnenjahres. Mehr und mehr rückten politische Feste in den Vordergrund (Nationalfeiertage), daneben Schützen-, Turn- und Sänger-

feste. Nach dem Zweiten Weltkrieg boomte der private Festbereich (. Party. ), in den 60er Jahren kamen Stadtteil- und

Nachbarschaftsfeste auf. An die Stelle des natürlichen Festkalenders trat eine Festkultur der Beliebigkeit, Feste wurden politisch instrumentalisiert und vom Marketing überformt, Weihnachten ist heute das konsumorientierteste Fest der Welt. Die christliche Kritik an vorchristlichen Kulten führte zu Veränderungen von Ritualen und zu einer Neudeutung der uralten Feste - die natürlichen Grundlagen blieben unverändert. Seit dem Brief des Apostels Paulus an die

keltochristliche Gemeinde der Galater (. Kelten. ) vesuchte das Christentum, die natürlichen Grundlagen des Kirchen-

jahres in Vergessenheit zu bringen, da aus christlicher Sicht Christus als das . wahre Licht. die erdachten Naturgott-heiten überwunden hatte. Tatsächlich knüpfen die christlichen Festtage an uralte, nicht erdachte, sondern natürliche Tradition an, und dies ebenso bei solaren wie bei Mondfesten (Ostern): Und so verschwindet mit der Abschaffung jeden christlichen Festes ein Stück . Naturzeit. . Niemand kann das Festrad zurückdrehen, doch allen bleibt es freigestellt, sich auf die natürlichen Grundlagen zu besinnen und die Feste als das zu begehen, was sie einst waren, was sie sind und was sie weiterhin sein können: natürliche Fixpunkte, die den Menschen während des Alltags innehalten und zugleich fröhlich feiern lassen - und ihn in Einklang stellen mit dem natürlichen Kreislauf von Himmel und Erde.


 




Vogesen: Die Grotte auf dem Mont Saint-Michel bei Saverne (Zabern) in den nördlichen Vogesen hat links in der Wand eine Öffnung, durch die der mittelsommerliche Sonnenaufgang auf dem Bastberg beobachtet wurde. Die Vertiefung am Ausgang der Grotte ist ein Kopfnischengrab.


Fränkische Schweiz: Der Platz bei der Walpurgiskapelle auf dem . Walberla. ist alljährlich am 1. Mai oder am Wochenende danach Schauplatz eines der bekanntesten Maifeste in Franken; rechts steht der Maibaum.


Odenwald: Der Melibocus, der am weitesten in die Rheinebene vorspringende Berg des Odenwalds, diente jahrtausendelang als Sonnenaufgangs-Kalenderberg.


Alle nach dem Mondkalender berechneten Feste sind beweglich. So wird das Osterfest, das älteste christliche Fest und Hauptfest des Kirchenjahres, am ersten Sonntag nach dem ersten Vollmond nach Frühlingsanfang gefeiert.


Ein umstrittenes Sonnenbeobachtungsdenkmal ist der Kriemhildenstuhl oberhalb des . römischen Steinbruchs. bei Bad Dürkheim. Die eingeritzten . Sonnenräder. in den Wänden des Steinbruchs werden auch als . römische Standartenzeichen. gedeutet. Unbestritten ist, daß vom Kriemhildenstuhl aus der mittsommerliche Sonnenaufgang über dem Melibocus im Odenwald beobachtet werden kann.