"Ein wenig Glücksgefühl" auf dem Mont Blanc
Das Dach Europas
von Reiner Herrmann

Mehrere Tage lagen wir auf der Lauer und warteten auf Wetterbesserung. Der Rasen um unser kleines Zelt verwandelte sich allmählich in eine Schlammwüste, aber der allmorgendliche Gang zum Auskunftsbüro für Hochgebirgstouren (LOffice de Haute-Montagne "Gérard Devouassoud") sowie der Blick auf das Vorhersage-Bulletin vom Meteorologischen Dienst waren wenig verheißungsvoll. Balmat auf seinem Denkmalsockel im Ortskern von Chamonix wies denn auch mit seiner Hand anstatt auf den Gipfel nur auf düstere Wolkenberge. Davor einige Touristen etwas ungläubig darüber rätselnd, ob denn das Dach Europas, wenn man es denn sähe, tatsächlich so hoch in den Himmel rage wie die Handbewegung Balmats es andeutet.

Jahre gingen ins Land, dann endlich ein neuer Anlauf. Frühherbst, die Nacht im Auto am Col des Montets ist zwar kalt, doch am Morgen der Blick hinaus zeigt Gipfel, Grate, Felsnadeln, Firn und Blankeis unter stahlblauem Himmel. Einige letzte Vorbereitungen im Bergsteigermekka Chamonix, begleitet vom Selbstvorwurf, daß ein wenig mehr Fleiß beim Französischunterricht in der Schule nun sehr hilfreich wäre.

Wir schreiben den 27. September, und die herbste Enttäuschung ist, daß mit Ende der französischen Ferienzeit so gut wie alle Räder stillstehen. Die Seilbahn von Les Houches sowie die Schmalspurbahn "Tramway du Mont Blanc" von Fayet über Saint Gervais, Col de Voza nach Bellevue und weiter bis zum Bionnassaygletscher auf 2372 Metern - was uns rund 1000 Höhenmeter Anstieg erspart hätte - haben ihren Betrieb bereits am 20. September eingestellt. Wir trösten uns damit, daß wir dafür mit hoher Wahrscheinlichkeit weder Hütten noch Gipfel mit irgend jemandem würden teilen müssen.

Aus einem rund 30 Kilometer langen und 13 Kilometer breiten, zu einer schwach gebogenen Sichel geformten Massiv aus Fels, Firn und Eis ragt mit 4807 Metern der höchste Berg Europas. Lange bevor der Kampf ums Matterhorn von sich reden machte, setzte hier bereits die Geschichte seiner Besteigungen ein. Als der junge Genfer Naturwissenschaftler Horace-Bénédict de Saussure 1760 von Chamonix aus zum ersten Mal die gewaltige, kuppelartige Berggestalt erblickte, war er sogleich von dem Gedanken beseelt, sie zu besteigen. Man nahm an, daß es sich dabei um den höchsten Berg Europas, ja der Welt handeln müsse, und die mit noch ungenauen Instrumenten vorgenommenen Höhenmessungen kamen mit 4775 Metern der tatsächlichen Gipfelhöhe bereits recht nahe. Eine große Summe Geldes versprach er demjenigen - ließ der wohlhabende Saussure in Chamonix verkünden -, der ihm den Weg dort hinauf weisen würde. Das verlockende Angebot stieß aber zunächst auf wenig Resonanz. Der erste namentlich bekannte Wagemutige (später häufiger Führer Saussures), Pierre Simoin, startete allein zwei Versuche, hatte jedoch wenig Erfolg. Zu groß war offensichtlich noch der Respekt vor dem unbekannten Eisriesen.

Erste erfolgversprechende Vorstöße wurden von dem Arzt und Naturforscher aus Chamonix, Dr. Michel-Gabriel Paccard, und dem Kristallsucher Jacques Balmat unternommen. Beide versuchten es zunächst unabhängig voneinander über die Felsinsel von Grands Mulets (3000 Meter). Von dort stieß Balmat bis zum Grand Plateau auf 4000 Meter vor. Eine enorme Leistung angesichts der für heutige Verhältnisse völlig unzureichenden Ausrüstung. Ein weiterer Vorstoß mit einigen anderen Berggängern endet am Bossesgrat, der heutigen Normalroute. Der 7. August 1786 nun sieht Paccard und Balmat in einem gemeinsamen Unternehmen vereint. Sie erreichten die Felsen der Montagne de la Côte. Nach einer ungemütlichen Biwaknacht ging es tags darauf über den Bossonsgletscher, Grands Mulets zum Grand Plateau. Dann folgte der Aufschwung im Korridor, wobei sich zunehmend Höhe und Kälte unangenehm bemerkbar machten. Zudem kam Sturm auf, trieb Schneewolken über sie hinweg. Gegen Abend standen sie endlich am Gipfel: das Dach Europas war bezwungen.

Doch das sollte im Mont-Blanc-Massiv nur der Anfang sein. Gipfel nach Gipfel, Felsturm nach Felsturm, unzählige Pfeiler, Wände, Grate, Couloirs wurden in den folgenden 200 Jahren bezwungen. Immer neue Herausforderungen wurden und werden hier bis in unsere Tage gesucht und gefunden. Erfolg und Mißerfolg, Glück und Verderben säumten die vertikalen Wege. Die Eröffnung schwierigster Routen an Jourasses, Frêney-Pfeiler, Aiguilles Dru und Grépon sind in die Bergsteigergeschichte des 20. Jahrhunderts als bedeutende Ereignisse eingegangen.

Von den Segnungen einer Seil- und Zahnradbahn so schmählich im Stich gelassen, starteten wir schließlich in Les Houches auf bescheidenen 1067 Höhenmetern bei, wie immer man es nimmt, spätsommerlichen oder frühherbstlich milden Temperaturen. Aller Anfang ist schwer: Schweiß rann in Strömen, zumindest bis der richtige Rhythmus gefunden war. Wie so oft kamen dabei Zweifel auf, ob man dies oder jenes hätte zurücklassen sollen. Aber Bekleidung für alle möglichen Wettersituationen, Seil, Pickel, Helm, Eisgeh-Eisen, Verpflegung, Kocher und Notapotheke forderten nun einmal ihren (gewichtigen) Preis.

Zunächst noch im Waldgelände wand sich der Pfad Serpentine um Serpentine nach oben. Jenseits der Baumgrenze stießen wir auf den Bahnkörper der Zahnradbahn, erreichten bei 2372 Metern deren Endstation und landeten schließlich bei 3167 Metern an der Tête Rousse-Hütte. Wer bis hierher nur an Mühsal denkt, gar Schritte zählt, hat schon verloren. Es fördert bekanntlich die Moral, wenn die Gedanken immer weit voraus eilen, schon um die Gipfelzone kreisen, während die Beine ganz automatisch die Anstiegsroute unter sich abspulen.

Droben gleich einem silbernen Adlerhorst glänzt am Ende einer langen Felsrippe die Alu-Box der Goûter-Hütte (3817 Meter) in der späten Nachmittagssonne. Das sieht sehr nahe aus, ist es aber nicht, denn die klare Herbstluft täuscht.

2000 Höhenmeter lagen zwar hinter, 640 aber noch vor uns. Würden wir es bis zum Einbruch der Dunkelheit noch schaffen? Die Ungewißheit, wie lange das Wetter halten würde, trieb uns weiter. Das steinschlaggefährdete Coulloir, das es zu queren galt, gab sich gnädig, danach ging es entlang der Felsrippen aufwärts. Die Szenerie an der Hütte war gespenstisch: Die Tür stand offen und ein leichter Abendwind schlug sie mit Geschepper an die blecherne Außenwand. Drinnen war es leer, nur einige alte Decken lagen herum. Selbst das Nottelefon war abgebaut. Was immer geschehen mochte, wir konnten auf nichts und niemand zurückgreifen. 2700 Meter Anstieg mit leidlich schwerem Gepäck an diesem Tag, zuletzt bis dicht unter die 4000-Meter-Marke, forderte seinen Tribut: ohne uns auszuziehen, fielen wir im kalten Lager in einen totenähnlichen Schlaf.

Zur Routine gewordenes Ritual am anderen Morgen: das vertraute Geräusch des Kochers, einige Schluck heißen Getränks, dazwischen einige Bissen in den wenig aufnahmewilligen Magen, Sortieren der Ausrüstung, Anlegen des Brust- und Sitzgurtes. Alles geschah ohne Wortwechsel, und nur die Schritte in der Blechbox durchbrachen die Stille. Kein Vergleich zur Hochsaison, wenn in der Box mit

76 ausgewiesenen Lagerstätten bis zu 200 Gipfelaspiranten zügellose Hektik verbreiten.

Beim Aufstieg zum Dôme du Goûter knirschte der kalte Schnee zwischen den Krallen der Eisgeh-Eisen. Im Osten Morgenrot - Schlechtwetterbote! Das Refuge Vallot auf 4362 Metern sieht aus wie von vielen in schwärzesten Farben beschrieben, ein Notbiwak im wahrsten Sinne des Wortes. Noch hat der nahende Winter nicht die ausgetretene Spur am Bossesgrat verwischt, und irgendwann nach einer immer noch letzten Wellenkuppe, nach fünfeinhalb Stunden endlich der langersehnte höchste Punkt. Die geringere Sauerstoffmenge in der Luft macht sich deutlich bemerkbar, der Atem geht schwer. Man wird aber abgelenkt und des Schauens nicht müde, denn unter einem, so weit das Auge reicht: Berge, Berge, Berge. Angesichts der enormen Höhe wirken selbst Viertausender wie Bausteine aus dem Legoland.

Mit ein wenig Glücksgefühl und pochendem Herzen ging es zurück zur Cabane de lAiguille du Goûter. Dort waren von Westen herandriftende Schlechtwetter-

boten bereits deutlich auszumachen. Nach kurzer Rast deshalb noch am selben Tag Abstieg zum Refuge de Tête Rousse. Erst zu Hause erfuhren wir, daß bereits einen Tag später der Winter hereinbrach. Bergfreunde, die wir leider verfehlt hatten, hatten anderntags gerade noch den Aufstieg zur Goûter-Hütte geschafft, mußten dann aber bei Schneetreiben schleunigst den Rückzug antreten.

Bergsteiger sind sie alle, ob man sie noch in Normalbergsteiger, Spitzenbergsteiger, Extrembergsteiger einteilen muß, erscheint fraglich. Erstens wird die Meßlatte ins Extreme immer weiter in

die Höhe geschoben, zum anderen

können plötzlich eintretende Wetterumschwünge schlagartig alles, selbst Normalrouten, ins Extreme verändern. Tatsache ist, daß dem Mont Blanc nur eine kurze Ruhepause zwischen Herbst und Frühjahr gegönnt wird. Kaum sind die letzten Hundertschaften des Jahres über den Normalweg zum Dach Europas vorgedrungen, rüsten sich bereits die Skialpinisten von der Grands-Mulets-Hütte zum Gipfelsturm. Die Gendarmerie (Peleton specialisé de Haute Montagne) hat denn auch alle Mühe, einigermaßen die Übersicht zu behalten. Nicht einmal alle Anwärter für schwere und schwerste Routen hinterlassen nämlich auf dem Bergsteigerbüro von Chamonix eine Notiz über ihr Vorhaben. Doch die erfahrenen Berg-Gendarmen haben ein Gespür dafür, wo am Berg "etwas läuft". Aber dennoch: Rund 50 Bergtote jährlich im gesamten Massiv sind eine traurige Schreckensbilanz.

Während das Gros der Bergsteiger im allgemeinen mit guter Ausrüstung und einigermaßen trainiert dem Gipfel zustrebt, traut sich heutzutage bereits jeder mittelmäßige Skifahrer zu, über den 20 Kilometer langen Vallée-Blanche-Gletscher nach Chamonix abzufahren. Startpunkt ist die Felsnadel der 3842 Meter hohen Aiguille du Midi, dort hinauf hat ihn die Luftseilbahn in wenigen Minuten befördert. Was danach kommt, ist für die meisten kaum abschätzbar. Kann man sich anfänglich noch krampfhaft an einem Seilgeländer zum Startpunkt der Gletscherpiste hinabhangeln, spielen sich wenig später in den Séracas du Géant wahre Dramen ab. Vorbei an einsturzgefährdeten Türmen aus Eis und Firn werden in der Spaltenzone gefährliche Abrutschmanöver unternommen, wo statt dessen souveränes Beherrschen des Sportgeräts unabdingbar geboten wäre. Ein italienischer Familienvater, dessen Frau dabei in eine offene Spalte stürzte, zauberte denn auch nach gelungener Rettung durch zufällig Hinzugekommene, anstatt eines Seils lediglich eine Flasche Sekt aus seinem Rucksack. Doch leider geht es nicht immer so glimpflich ab.

In den Bergen wohnt die Freiheit, sagt der Volksmund, doch was dem einen höchstes Glück und Erfüllung, ist dem anderen nur eine Spielwiese, auf deren Terrain sich im Alltag Unausgelebtes Bahn bricht. Das Dach Europas, das Massiv du Mont Blanc, macht dabei keine Ausnahme.


 



Die 3842 Meter hohe Aiguille de Midi ist Startpunkt einer Skiabfahrt über den 20 Kilometer langen Vallée-Blanche-Gletscher.


Unzulänglich ausgerüstet, versuchten schon um 1760 einige Wagemutige den Aufstieg auf den Mont Blanc. Der Genfer Naturwissenschaftler Horace-Benedict de Saussure hatte demjenigen eine große Summe Geldes versprochen, der ihn zum Gipfel führe.


Der Mont Blanc, wie eine Sichel geformtes Massiv aus Fels, Firn und Eis, ist mit


Ein farbenprächtiger Ausblick beim Sonnenaufgang am Mont Blanc, der aber leider schlechtes Wetter ankündigt.


Beim Aufstieg waren an einem Tag über 2700 Höhenmeter zu überwinden.


Auch beim Abstieg: Blick auf Berge, Berge, Berge, soweit das Auge reicht.


Wer den Gipfel erreicht, wird des Schauens nicht müde und vergißt die Anstrengungen des Aufstiegs.